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FESTIVALGUIDE Tage Alter Musik in Herne 2015

Kunst statt Kohle

Auch wenn das schwarze Gold bald Geschichte ist sind tief im Westen doch neue Schätze zu entdecken – kultureller Art wie die Tage Alter Musik in Herne

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Autofahrer lassen Herne schon einmal links liegen – oder auch rechts. Durchschneiden doch gleich zwei Hauptverkehrsadern des Ruhrgebiets die Stadt zwischen Gelsenkirchen und Bochum. Und selbst der interessierte Herne-Besucher weiß oft nicht so recht, wo er gerade steht: Im eigentlichen Herne? Oder in Herne 2, wie Wanne-Eickel genannt wird, mit der  sich Herne 1975 im Zuge der Gebietsreform zusammenschloss? Zweimal im Jahr aber steuern selbst auswärtige Autofahrer ganz gezielt die Stadt an, dann führt nur ein Weg nach Herne: Zum einen im Spätsommer, wenn die Cranger Kirmes anläuft, eines der größten Volksfeste der Region; und zum anderen im November, wenn die Tage Alter Musik stattfinden. Dann mutiert die Stadt mit der typischen Ruhrpott-Atmosphäre  „zum Bayreuth einer florierenden Kulturszene von sehr eigenem Charakter, die stetig neue, schöne und bizarre Blüten treibt“ wie ein Frankfurter Kritiker treffend schrieb.

Gegründet wurde die Tage Alter Musik Herne 1976 – seinerzeit eine Pionierleistung der Originalklang-Bewegung. Seit 1980 steht es unter der Ägide des Westdeutschen Rundfunks, der alle Konzerte aufzeichnet, live oder zeitversetzt im Kulturradio WDR 3 überträgt und die Mitschnitte jeweils im Folgejahr auf Tonträgern herausgibt. Inzwischen sind zwar viele Jahrzehnte vergangen, doch in seinem intellektuellen und musikalischen Anspruch ist sich das Festival treu geblieben. Erkennbar nicht nur an den Spitzenensembles und Solisten, die hier auftreten, sondern auch an dem expliziten Thema eines jeden Jahres. 2014 etwa hieß es zart „Seelentöne, Revolutionäre der Empfindsamkeit in der Musik zwischen Mittelalter und Frühromantik“, 2012 gewaltig „Die zehn Gebote“,  2011 vielsagend „Alter Ego“,  und 2009 drehte sich alles um die „Tabus in der Musik vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert“. Die 40. Jubiläumssaison widmet sich nun dem „Kult“ – eine geschlossene Veranstaltung also für die gebildete Alte-Musik-Community?

Einen Eindruck, den die Musikinstrumenten-Verkaufsmesse, Ausstellungen wie auch Symposien, die neben dem guten Dutzend Konzerten in jedem Jahr fester Bestandteil des Festivals sind, durchaus erwecken könnten. Ein anderes Bild gewinnt, wer das Festival besucht: Nicht jedes der Konzerte dringt in die ambitionierten, philosophischen Tiefen vor. Zudem sei die „unglaubliche Emotionalität, die Unmittelbarkeit“ dieser Musik, „die man besonders in Herne neu und sensationell erleben kann“, nicht zu unterschätzen, meint Michael Stegemann; der Dortmunder Professor für historische Musikwissenschaft lebt seit 2007 in Herne und verpasst so gut wie kein Festival. „Es ist bezeichnend, dass gerade in den letzten Jahren Alte-Musik-Titel es geschafft haben, in den Pop-Charts zu landen, und ein Publikum erreichen, das sich sonst gar nicht für sogenannte ‚ernste Musik‘ interessiert.“

Hinzu kommt, dass die Festival-Macher seit einigen Jahren nicht mehr allein auf die Kontinuität des Alten setzen, sondern Neues einbinden – und so verzeichneten die Tage Alter Musik denn 2014 mit 3800 Besuchern einen Zuwachs von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Was auch an den Spielstätten liegt: Weniger wohl am Kulturzentrum, einem Zweckbau aus den 70er Jahren, wie es ihn überall in Deutschland gibt, dessen fehlender Charme allerdings durch eine erstaunlich präzise Akustik kompensiert wird; deutlich mehr Atmosphäre bietet da schon die vis-à-vis  gelegene neogotische Kreuzkirche. Besonders reizvoll aber sind die Konzerte in der stillgelegten Zeche, von den Hernern liebevoll „Unser Fritz“ genannt – nach Friedrich III., der 100 Tage lang König von Preußen und deutscher Kaiser war. Wo hier einst die Eisenhämmer von über 4000 Arbeitern wummerten und lärmten, heißt es heute: Kunst statt Kohle. 

Die Festivaldaten im Überblick:

Zeitraum: 12.-15.11.2015

Künstler: L’arte de mondo, Vox Werdensis, Elbipolis Barockorchester, Le Concert Spirituel u. a.

Ort: Herne

Was es im Bereich Festival zu entdecken gibt, stellen wir Ihnen in unserem Festivalguide vor.

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