Blind gehört Ulf Schirmer

„Da gruselt’s mich richtig“

Der Dirigent Ulf Schirmer hört und kommentiert CDs von Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

© Gregor Burgenmeister/concerti

"Blind gehört" live mit Ulf Schirmer und Moderator Christoph Forsthoff

"Blind gehört" live mit Ulf Schirmer und Moderator Christoph Forsthoff

Am Ende klingt ein wenig Erleichterung bei Ulf Schirmer durch: „Der Abend hat andere Wendungen genommen, als ich im Vorfeld befürchtet hatte.“ Denn der Dirigent hatte „ewig lange“ mit sich gerungen, ob er sich unserem „Blind gehört“ wirklich stellen sollte – und dann noch live vor concerti-Lesern im Münchener Bang & Olufsen-Studio in der Maxburgstraße! „Mein Albtraum ist bei Günther Jauch zu sitzen und dann die 25-Euro-Frage nicht beantworten zu können, welche Pop-Band dort spielt …“ Doch zum Glück ging es nicht um solch schlichte Antworten, und so war nicht nur der Bremer erleichtert, sondern auch das Publikum begeistert ob seiner ebenso klugen wie anekdotischen Ausführungen.

  Lehár: Giuditta. Freunde das Leben ist lebenswert

  Münchner Rundfunkorchester, Ulf Schirmer (Leitung)

  2012. cpo


Das ist der Neil Shicoff – und ich fürchte, ich dirigiere da, oder? (lacht) Giuditta – ist grad kürzlich erschienen und seit der Einspielung habe ich es nicht wieder gehört: Das ist ganz überraschend jetzt – ich würde es alles anders machen … Ich bin in letzter Zeit durch das Gewandhausorchester, durch diese intensive, mehrjährige Zusammenarbeit auf bestimmte klangliche Dinge gekommen, die mich anders anfangen zu interessieren. Die Operette hat eine Besonderheit: Dies hier ist die sogenannte Staatsopern-Fassung – Lehár hatte sie für die Wiener Staatsoper geschrieben, und sie ist schlichtweg überinstrumentiert. Eine Schwäche der Instrumentation, aber auch charmant, weil man in jedem Takt seine ungeheure Verehrung für die Wiener Philharmoniker raushört und -spürt. Als Dirigent muss man da eingreifen, um es aufführbar zu machen – und das wehte mir eben beim Hören herüber: Das kann man noch feiner, anders machen.

 

Mendelssohn: Violinkonzert e-Moll

Daniel Hope (Violine), Thomas Hengelbrock (Leitung)

2006. Deutsche Grammophon

  

 

Das für mich Unangenehme ist, dass ich diese Musik sogar selber schon dirigiert habe und mir fällt nicht ein, wie das Stück heißt … und dann gibt es etwas an dieser Art zu musizieren, was mich an meinem eigenen Musizieren bei Aufnahmen auch oft stört: Seitens der Technik wird gefordert, dass solch eine melodieführende Stimme mit der Harmonie immer millisekundengenau übereinander passen muss – womit die Bewegung von Musik extrem stark mechanisiert und eingeschränkt wird. Das heißt, da ist kein Solist, der sich aussingt und von daher ganz natürlich Tempoverzögerungen und -beschleunigungen in jedem Takt drin hat; sondern man spürt ganz genau: Das haben sie nochmal probiert und das und das … Nur entsteht dadurch eben eine musikalische Neutralität, die Aufnahmen und Klänge, Solisten, Dirigenten und Orchester austauschbar macht.

Donizetti: Lucia di Lammermoor, Percorrete

le spiagge vicini

RCA Italiana Orchestra, Georges Prete (Leitung)

1996. RCA

  

Ich kenne das gar nicht – aber im Musizieren tun sich so viele Widersprüche auf, dass ich einfach gern wissen möchte, was das ist und wer da gegen wen musiziert … Das ist wirklich schräg: Die Klanglichkeit dieser Musik kommt aus einer Zeit, als man diese Instrumente noch nicht hatte, die da spielen – das wunderte mich schon in den ersten Takten. Die Pauke ist eine moderne Pauke, spielt aber alte Musik; jetzt kommen dann die Bläser dazu, spielen aber nicht zusammen. Dann spielen die alle moderne Instrumente, distonieren aber trotzdem – als die Klarinette da so reintrötete: Da hat’s mich richtig gegruselt … Das ist also von 1965: Da hat die Leute das alles nicht geschert, auch solch eine Widersprüchlichkeit nicht – aber hier passt wirklich gar nichts zusammen. Wenn die heute hier in München an der Oper so spielen würden, das würde man nicht akzeptieren – da wäre das Publikum konsterniert.

  

Reger: Suite für Violoncello Nr. 2

Jan Vogler (Violoncello)

1997. Berlin Classics

  

Das hat mir außerordentlich gut gefallen, ohne dass ich jetzt die Komposition benennen könnte – haben Sie im Publikum das erkannt? Am Musizieren hat mir hier genau das gefallen, was mir bei den anderen Aufnahmen gefehlt hat: Es war kein Takt wie der andere. Er – ich denke, es ist ein Mann, der gespielt hat – hat das Tempo in jedem Takt modifiziert, je nach Höhepunkt der Linie und welche Note herausgearbeitet werden sollte, so dass das Ganze immer sinnfällig ein musikalisches Sprechen bleibt. Ein enormer harmonischer Reichtum, obwohl der Satz ja nie mehr als zwei Stimmen gleichzeitig klingen hatte, aber er war dann in sich drei- bis vierstimmig, also zeitlich versetzt – und das hat er eben durch ein Hinein- und Herausgehen aus dem Tempo auch herausgearbeitet. Und das ist das ewig Menschliche am Musizieren, was sich so völlig unterscheidet von diesem monströsen Metronomischen der großen Apparate.

R. Strauss: Rosenkavalier Suite

SO des Bayerischen Rundfunks, Lorin Maazel (Leitung)

1995. BMG Classics

 

Was soll ich denn jetzt sagen? (lacht) Rosenkavalier, erster Aufzug, Einleitung – und sehr starr und statisch, geradezu klinisch. Wobei ich bemerkenswert fand, dass dieses Klinische in dem Moment in die Hose ging, als der Höhepunkt vorbei war: Da müssen die Orchesterhälften zeitversetzt spielen – und gerade wenn man Präzision mag und Strenge, kann man das üben.

… Maazel also – das wundert mich gar nicht: Ich habe ja mit ihm zusammengearbeitet und bin immer einer seiner größten Bewunderer gewesen wegen seiner immensen Fähigkeiten. Aber er hatte es eben auch mit diesem Herunterbuchstabieren – vor allem wenn er keine Lust hatte. Und wenn er etwas machte, was er vorher nie dirigiert hatte: Das habe ich selbst in extenso erlebt. Ich habe für ihn in Wien die Lulu einstudiert und er hat das alles so genommen, wie ich es einstudiert hatte und stand dann wirklich so den ganzen Abend da: Da war nicht ein eigener Impuls.

Piazzolla: Vier Jahreszeiten

Astor Piazzolla (Bandoneon)

1994. Bella Musica

Ich vermute mal, dass das Astor Piazzolla ist – unerreicht. Ich habe es nie geschafft, Tango zu lernen: Ich habe es versucht, redlichen Herzens, und auch immer wieder Anläufe unternommen mit meiner Frau. Denn ich bin ja Chef an einem Haus, das einen Opernball hat, und da gehört es zu den Verpflichtungen, dass ich am Anfang nicht nur kluge Reden schwinge, sondern nachdem das Ballett eine Runde Wiener Walzer gedreht hat, werden die Promis gebeten und müssen auch Wiener Walzer tanzen – und als Erster ich mit meiner Frau. Also habe ich mir etwas einfallen lassen, das konnte sie erst gar nicht glauben: Bei uns in der Provinz, wo wir wohnen, habe ich den besten Tanzschullehrer privat engagiert und wir haben Einzelunterricht gehabt. Das hat zu meiner Überraschung großen Spaß gemacht, aber es ging natürlich immer wieder um Walzer: An Tango war da nicht zu denken …

 

 Wagner: Die Walküre

 Hamburger Philharmoniker, Simone Young (Leitung)

 2008. Oehms Classics

   

… (beim Einsatz des Gesangs) Aha, das wollte ich wissen – Sie können es ausmachen. Das gefällt mir überhaupt nicht – ich komme mit dem Hören gar nicht hinterher: Das ist ja wie Rossini! Und dann, wenn der Wotan einsetzt, da schreibt Wagner oben drüber: dasselbe Zeitmaß. Und ich habe das deswegen solange laufen lassen, weil ich dachte: Da bin ich mal gespannt, wie die dann rauskommen – es ist ein neues Zeitmaß, weil kein Wotan das in dem Tempo singen könnte. Man kommt eben gar nicht raus, sondern macht es einfach neu – und da werde ich schlecht gelaunt, weil bestimmte Ansprüche an Durchdringung gar nicht erkannt sind, die diese Partitur stellt.

Gounod: Cinq-Mars

 Rundfunkorchester München, Ulf Schirmer (Leitung)

 2015. Singulares

  

… Ich rätsel’ die ganze Zeit und komme doch nicht drauf … (als der Gesang einsetzt) Oh – irgendwann musste ja mal einer anfangen zu singen, das war mir schon klar: Gounod – ja, das kenne ich nun: Cinq-Mars. Diese Oper wird in Leipzig aufgeführt werden, wir haben sie ja ausgegraben und in Versailles gespielt und tatsächlich geht die jetzt über die Theaterbühnen: Es gibt andere Häuser, die sich auch interessieren. Das ist insofern schön, als dann diese Ausgraberei mal einen richtig tiefen Sinn macht. In den 1880er und 1890er Jahren ist diese Oper sehr häufig gespielt worden, auch in Deutschland – es war, wie man heute sagen würde, ein Welterfolg.

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