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Blind gehört Albrecht Mayer

„Das ist eine vollkommen sinnlose Komposition“

Der Oboist Albrecht Mayer hört und kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonKlemens Hippel,

Albrecht Mayer, geboren 1965 in Erlangen, ist seit 1992 Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker und gleichzeitig ein gefragter Solist. Beim „Blind gehört“ in seinem Berliner Wohnzimmer ist er sehr flexibel: Mal kommentiert er zur Musik, mal hört er erst aufmerksam zu.

Beethoven: Largo aus dem Oboenkonzert F-Dur Hess 12
Bart Schneemann (Oboe)
Radio Chamber Orchestra

Jan Willem de Vriend (Leitung) 2004

Channel Classics

Das Stück habe ich nie gehört und nie gespielt. Es könnte eins von den Lebrun-Oboenkonzerten sein. Davon hat man jetzt insgesamt vierzehn wiederentdeckt. Der Oboist könnte François Leleux sein. Der hat so ein Album gemacht. Beethoven? Oh, und was soll das sein? Das Oboenkonzert – das ist natürlich Quatsch. Es gibt kein wiederentdecktes Beethoven-Konzert. Ich kenne diese Fragmente, das muss eine Rekonstruktion sein. Aber es ist schön, dass das jemand gemacht hat. Eine nette Rekonstruktion, wie von einem Kleinmeister der Zeit, aber als Beethoven nicht zu erkennen. Der Oboenton ist sehr schön weich, mit wenig Vibrato. François Leleux spielt so ähnlich – aber wenn der das gemacht hätte, dann müsste ich es mal gesehen haben. Hier ist eine gewagte Modulation – hübsch. Der Kollege spielt sehr gut Oboe – er ist gewissermaßen mein Antipode. Er setzt sein Vibrato, wenn überhaupt, sehr sparsam ein, das ist komplett gegen meine Philosophie des Oboenspiels, aber klanglich sehr gut. Es gibt den holländischen Kollegen Bart Schneemann, ist der das? Ich habe ihn mal in einem Café in Amsterdam kennengelernt, aber nie gehört, weder live noch auf CD. Nein, das Stück fehlt uns nicht im Repertoire. Natürlich blutet jedem Oboisten das Herz, dass es ausgerechnet von Beethovens Oboenkonzert nur die Satzanfänge gibt. Das Violinkonzert von Beethoven ist ja vielleicht das schönste Instrumentalkonzert, das jemals komponiert wurde. Da wäre ein Beethoven-Oboenkonzert natürlich schön.

Bellini: Concerto Es-Dur
Christoph Hartmann (Oboe)

Ensemble Berlin 2008 
EMI Classics

Das ist Bellinis Concertino in Es-Dur, in einer sehr kleinen Besetzung ohne Bläser. Es ist also kein Originalwerk, sondern ein Arrangement, bei dem die Belcanto-Begleitung des Orchesters fehlt. Es gibt eine Version von einem Italiener, der hat die Bläser weggelassen und harmonische Wiederholungen eingefügt. Daran orientiert man sich anscheinend. Hier in der Pollacca ist das schade: Das müsste jetzt ein richtig großes Tutti sein, das geht hier verloren. Und dieses Concertato kommt in der Kammermusikversion auch nicht raus, da muss es einen richtigen Wettkampf der Streichergruppen mit der Oboe geben. So bekommt es fast etwas schuberthaftes. Aber als Kammermusikversion ist es auch hübsch. Und es ist sehr gut gespielt. Ein Oboist, der sein Handwerk versteht, er hat eine sehr schöne Klangfarbe. Auch das Ensemble ist sehr gut. Aber wer das ist, weiß ich nicht. Ich kenne ihn? Ist das die neue Scheibe von Christoph Hartmann?

Telemann: Konzert für Oboe d‘amore TWV 51e2
Albrecht Mayer (Oboe)

Berliner Barock Solisten 2001
EMI Classics

Das ist ewig her, aber das könnte ich sein. Das haben wir aus der Taufe gehoben: ein Telemann-Konzert, das wir in Rheda im Schloss gefunden haben. Muss ich das kommentieren? Es hat sich ja sehr viel getan in den letzten zehn Jahren. Damals hatte ich ein englisches Instrument aus Rosenholz, das eine sehr weiche kleine Stimme hatte. Sehr süß und schmeichelnd, aber klein. Das Instrument, das ich jetzt spiele, ist genau das Gegenteil davon. Das orientiert sich mehr an einer Alt-Stimme und ist viel größer und offen im Klang. Und dieses Telemann-Konzert hat ja die denkbar einfachste Struktur – das heißt, drei Fünftel der Noten, die ich da spiele, sind von mir, nicht von Telemann. Diese Improvisationen würde ich heute natürlich anders machen. Hinzu kommt, dass es ein Ensemble ist, das Barockmusik im vermeintlich barocken Stil auf modernen Instrumenten spielt. Das machen nicht mehr so viele. Es gibt mittlerweile so tolle Barockensembles, die so fantastisch auf Originalinstrumenten spielen, dass diese Zwitter aussterben. Ich finde das Ergebnis sehr schön, aber den Klang, den man mit Darmsaiten, Barockbögen und Barockinstrumenten bekommt, kann man mit modernen Instrumenten leider nicht erzeugen. Und es gibt ganz wunderbare Oboisten, die sehr gut Barockoboe spielen. Ich bewundere das sehr.

Schumann: Romanze für Oboe und Klavier op. 94,1
François Leleux (Oboe)
Eric le Sage (Klavier) 2007
alpha

Oh, sehr schön. Das müsste meine alte Aufnahme sein. Nein? Stimmt, jetzt hätte ich‘s auch gemerkt. Aber der Anfang war sehr schön. Ein gutes Tempo. Ich kenne die Aufnahme nicht. Da ist sehr wenig Vibrato – das könnte François sein. Bei dem funktioniert das Spiel mit wenig Vibrato gut, weil er ein sehr schönes Legato hat und eine wunderbare Luftführung. Einen komplett vibratolosen Ton kann ich auf die Dauer nicht ertragen, das ist wie Klarinette auf der Oboe gespielt. Ich wusste gar nicht, dass er Schumann aufgenommen hat. Er hat eine sehr schöne Klangfarbe und ist jemand, der sein Instrument wirklich beherrscht. Ich schätze ihn sehr. Neulich habe ich ihn in der Philharmonie gehört, und er kam dann in mein Konzert in München. Das fand ich sehr nett, das machen wir Oboisten normalerweise nicht so oft.

Rosetti: Oboenkonzert G-Dur
Christian Specht (Oboe)
Hamburger Symphoniker

Johannes Moesus (Leitung) 2001
MDG

Da haben Sie aber tief gekramt. Das ist so ein bisschen Mozart-verbrämt. Ein Sammelsurium von Mozart-Opern, nur nicht von Mozart. Ich habe absolut keine Ahnung, was das ist. Oh, die Flöte müsste man sofort ertränken. Sie hat mit der Intonation des Orchesters nichts zu tun. Das könnte alles sein, was ich nicht kenne. Ein mittelgroßer Klassik-Kleinmeister. Alles was gut ist, ist von Mozart geklaut. Das ist ein Konzert, das ich freiwillig niemals spielen würde. Und dazu muss man wissen, dass ich in meinem Keller ganze Stapel von solchen Konzerten liegen habe. Das ist der Prototyp davon: Eine vollkommen sinnlose Komposition. Und das oboistische Spiel weist erhebliche Mängel auf – da passen Orchester und Solist gut zusammen. Rosetti ist das? Ist sicher unten im Keller.

Schubert: Sinfonie C-Dur D 944
Bamberger Symphoniker
Jonathan Nott (Leitung) 2007
Tudor

Das ist eine wunderbare Klangmischung. Unforciert, wenig Vibrato, ideales Tempo, kein Kaugummi. Das gefällt mir sehr. Es ist an der historischen Aufführungspraxis orientiert, und das hört man sehr selten so gut. Hören wir in den zweiten Satz? Wenn die Intonation nicht so hoch wäre, könnte das sogar ein sehr gutes historisches Orchester sein. Aber dafür ist es auch zu perfekt gespielt. Der Oboist ist sehr weit im Hintergrund, spielt sehr klein und sehr weich. Das ist sehr ungewöhnlich. Mit so wenig Vibrato spielen wenige Orchester, und so hart und phrasiert arbeiten nicht viele Dirigenten. Das könnte sogar Rattle sein, wenn auch nicht mit uns. Es muss jedenfalls ein weit oben angesiedeltes Orchester sein. Wenn die Oboe nicht so dunkel und klein klänge, könnten es die Wiener sein. Bamberg? Super. So gut sind die gerade? Das hätte ich nicht gedacht. Ich war ja früher in Bamberg. Und Jonathan Nott dirigiert? Kompliment.

Beethoven: Sinfonie Nr. 3 Eroica
Orchester der KlangVerwaltung
Enoch zu Guttenberg (Leitung) 1999
Farao classics

Das ist meine Lieblingssinfonie. Da gibt es in jedem Satz Oboensoli. Wow, das ist extrem. So muss es klingen. Das ist sehr schön gespielt. Nehmen wir den langsamen Satz? Okay, die Oboe gefällt mir nicht. Aber das Orchester. Da ist jemand, der die Partitur sehr genau liest. Vielleicht sogar ein bisschen zu genau, zu viel herausgelesen. Aber so habe ich das Stück noch nie gehört, und das finde ich spannend. Da ist so viel Aktion, operatische Dramatik – ob das jetzt in einer marcia funebre was zu suchen hat, ist die Frage, aber es ist toll gespielt. Das würde ich mir kaufen. Die KlangVerwaltung? Aber nicht mit Enoch! Das ist Enoch zu Guttenberg? Den muss ich anrufen. Jetzt bin ich aber echt verblüfft. Da ziehe ich ganz tief meinen Hut. Dass die so interessant spielen. Ich habe viele Konzerte mit ihm gemacht und weiß, dass er diese Dramatik hat, aber dass das so rüber kommt – das ist für mich heute die erfreulichste Aufnahme. Eine wirklich schöne Überraschung.

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