Interview Maria João Pires

„Die Menschen werden immer dümmer“

Eigentlich sollten wir mit dem Alter reifer werden - doch die portugiesische Pianistin Maria João Pires sieht allenthalben eher einen Verlust an Seele und Idealen

© Caroline Doutre

Maria João Pires

Maria João Pires

Ihr Alter sieht man der feingliedrigen Pianistin, die sich neben ihrer Musikerkarriere intensiv für sozial benachteiligte Kinder in Südamerika einsetzt, in keinster Weise an. Im Gegenteil: Sie lacht sehr häufig ihr silbriges Jungmädchen-Lachen, wenn sie aus ihrem Leben erzählt oder über ihre Ideale spricht.

Wenn Sie Ihre Karriere Revue passieren lassen: Worin unterscheidet sich die Maria João Pires heute von der Pianistin des Jahres 1965?

 

Das ist schwer zu sagen – es gibt vieles, bei dem ich mich genauso fühle wie früher! Menschlich kann ich sagen: Ich bin sehr idealistisch geblieben und möchte immer etwas aufbauen, etwas ändern, für wichtige Dinge kämpfen. Als Musiker hat man sein Leben lang gespielt und versucht, Musik zu verstehen und zu wissen, was man machen soll und wie. Ein Leben ist dafür gemacht, um reifer zu werden und besser zu verstehen, toleranter zu sein. Ich finde es schön, älter zu werden.

Das würde nicht jeder von sich behaupten – eröffnet das Älterwerden dem Künstler neue Perspektiven?

Ich finde es als Frau, als Künstler und als Mensch in jeder Situation schön, älter zu werden! Man denkt, man verliert etwas, aber ich glaube, dass man viel mehr gewinnt. Das ganze Leben hat seinen Charme: Wenn man jung ist, hat man viel Kraft; mit dem Alter wird man vielleicht weniger agil, aber man hat viel mehr Erfahrung und Weitsicht.

Gibt es in Ihrem Leben eine Konstante, zu der Sie immer wieder zurückkehren?

Lesen! Ich lese alles, Philosophie, Romane … Lesen ist meine Begleitung. Es ist nur schwer, Bücher zu transportieren, denn ich habe mich noch nicht an das digitale Lesen gewöhnt – das macht mich immer ein bisschen müde. Das Lesen lebt für mich von der Haptik, vom Papier, der Brille … Ich zähle immer die Tage oder Wochen, die ich unterwegs bin und überlege mir genau, wie viele Bücher ich mitnehmen muss. Manchmal habe ich fast Angst davor, kein Buch dabei zu haben und in einem Land zu sein, in dem ich die Sprache nicht beherrsche – dann geht mir der Lesestoff aus!

Nicht nur das Lesen, auch das Hören hat sich ja verändert.Ist durch dieses „Music to go“ auch die Wahrnehmung von Musik im Konzertsaal eine andere geworden?

Nein, das glaube ich nicht. Was sich geändert hat, ist, wie Leute mit der Musik leben. Das Problem ist nicht, dass sie sich konstant beschallen, sondern, dass sie keine Stille mehr hören und verstehen können. Das ist eine der aktuellen Menschenkrankheiten!

Würden Sie sich wünschen, dass die Menschen wieder besser zuhören?

Ja sicher! Sie würden so viel dabei gewinnen! Sie sollten ein Interesse daran haben, einander zuzuhören. Heutzutage kann das niemand mehr – einer dominiert, der andere wird dominiert. Es gibt kein Gespräch mehr. Wir leben in einer globalen Diktatur, die alle akzeptieren, als wäre das demokratisch. Das ist furchtbar. Man spricht viel von vergangenen Diktaturen, aber über unsere aktuelle wird geschwiegen. Das finde ich sehr schade. Ich tue, was ich kann, um mich dem zu entziehen, aber ab einem gewissen Punkt muss man akzeptieren, was passiert.

Das gilt zweifellos auch für das Musikerleben. Es gibt von Ihnen ein Video, in dem Sie zwei Mozartkonzerte vorbereitet haben. Das Orchester setzt ein, Ihnen steht der Schock ins Gesicht geschrieben und doch spielen Sie so unvorbereitet wie fehlerlos …

Ich habe davon gehört! Ich kann nur nicht verstehen, warum so viele Leute das bemerkenswert finden! Das ist ganz normal, was da passiert! Natürlich ist es nicht normal, dass ich ein falsches Konzert vorbereite – damals gab es ein Missverständnis mit den Köchel-Verzeichnis-Nummern, da es ja auch sehr viele Mozart-Konzerte gibt! Die Situation hatte auch etwas Komisches für mich, da Riccardo Chailly noch in der Einleitung zu mir sagte: „Ach, das kannst du schon!“, und lachte! Das ist typisch Dirigent, der muss ja nicht spielen!

Die Faszination dieser Situation kommt vielleicht auch daher, dass sich niemand vorstellen kann, eine Musikbibliothek im Kopf zu haben, die jederzeit abrufbar ist …

Ich glaube nicht so sehr an den Kopf, sondern an die Erinnerungsfähigkeit des Körpers. Ich gebe nicht viel darauf, was meine Finger machen! Wenn man nur mit Hirn und Fingern übt, ist das sehr einseitig und macht einen genau in solchen Situationen angreifbar. Die Verbindung ist da zu einfach und nimmt im Gehirn zu viel Platz ein! Man muss mit dem Körper das Gedächtnis regelrecht aufwecken, denn nur er erinnert sich an alle Gesten und Bewegungen.

Am Klavier selbst sind Sie, was Gestik und Körperbewegung angeht, eher zurückhaltend. Ist das eine bewusste Entscheidung oder Eigenheit?

Es ist definitiv beides. Meine Art des Auftretens ist meine Art, bescheiden zu bleiben gegenüber der Musik. Ich glaube nicht daran, dass wir Interpreten so wichtig sind, wie die Welt uns heute darstellt. Die Musik soll durch uns durchgehen und weitergetragen werden. Dafür müssen wir Präsenz haben, da sein, in unserem Körper bleiben, wach sein. Dafür braucht man Ruhe und darf die Musik nicht auf Vorstellungen oder Gestik herunterbrechen. Die gehört nicht zur Musik! Man verliert Zeit mit der Bewegung – man sollte zuhören und mit dem Klang weitergehen. Da ist weniger oft mehr.

Wer Ihre Biografie liest, hat man manchmal das Gefühl, dass die Musik sich Sie ausgesucht habe – und nicht Sie sich die Musik.

Auch hier würde ich sagen, dass beides richtig ist. Ich liebte Musik schon als Kind und wurde davon angezogen. Ich kann nicht leben ohne sie. Jeder Mensch hat seine eigene Tendenz zu etwas, bei manchen nennt man das Begabung. Eigentlich sind wir Menschen alle gleich und nur unsere Tendenzen zu gewissen Dingen unterscheiden uns. Nur, wenn wir unseren Begabungen nachgehen, können wir auch einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten.

Glauben Sie denn, dass Musik einen Einfluss auf die Gesellschaft haben kann?

Aber ja! Wenn sie tief aus dem Herzen kommt! Unser Ziel im Leben sollte wahrscheinlich sein, dass wir der Menschheit und auch uns selbst nützen. Nützlich sein heißt für mich, weiterzukommen; weiterzukommen heißt für mich reifer werden. Die Menschen sollten reifer werden mit dem Alter, doch aktuell passiert das Gegenteil: Sie werden wieder dümmer und haben weniger Seele! Wir fühlen unsere Ziele nicht mehr. Unsere Existenz ist dazu gemacht, uns einander zu helfen und uns gegenseitig dabei zu unterstützen. Musik hilft dabei sehr, aber nur, wenn die Seele mit dabei ist. Mischt man aber Künstlertum mit Kommerz und Geld, ist der Künstler nicht mehr Künstler. Manch einer denkt, er müsste nur arbeiten, um das Ziel des Kommerzes zu erfüllen, dabei haben wir einen weit wichtigeren Auftrag: Entdeckungen zu machen und weiterzugeben!

CD-Tipp

Termine

Donnerstag, 20.06.2024 20:00 Uhr Residenz München

Maria João Pires, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, John Eliot …

Schubert: Sinfonien Nr. 4 c-Moll D 417 & Nr. 5 B-Dur D 485, Mozart: Klavierkonzert Es-Dur KV 271

Freitag, 21.06.2024 20:00 Uhr Residenz München

Maria João Pires, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, John Eliot …

Schubert: Sinfonien Nr. 4 c-Moll D 417 & Nr. 5 B-Dur D 485, Mozart: Klavierkonzert Es-Dur KV 271

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