Opern-Kritik: Deutsche Oper Berlin – Edward II

Jagd auf Schwule und Juden

(Berlin, 19.2.2017) Andrea Lorenzo Scartazzini schreibt eine Grand opéra des 21. Jahrhunderts

© Monika Rittershaus

Michael Nagy © Monika Rittershaus

Michael Nagy

Die Haltung der Autoren zum Sujet bestimmt das Genre der Grand opéra. Deshalb gehört „Edward II.“ wie Reimanns „Lear“ oder Zimmermanns „Die Soldaten“ zu dessen Monumenten. Nach der Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin, diesen abgründig dunklen, stürmisch sexuellen und burlesken neunzig Minuten explodierte die Applaussalve. Berechtigt: Tatsächlich hat das Werk des Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini (Jahrgang 1971) und seines Textdichters Thomas Jonigk (Jahrgang 1966) viel gemeinsam mit Halévys „Die Jüdin“ oder Tschaikowskys „Jungfrau von Orléans“. Mit dem Regisseur Christof Loy und der Sopranistin Agneta Eichenholz sind sie nach „Der Sandmann“ (Basel 2012 und Frankfurt 2016) ein starkes Team künstlerischer Wiederholungstäter. „Edward II.“ ist Grand opéra mit historischen Krisenmomenten und Umbrüchen. Gemeint sind aber analoge Themen der Gegenwart, hier das dünne Eis von Philanthropie über Antisemitismus und Homophobie. Musiktheater als Menetekel, tieflotender als eine Gay-Pride-Hymne. Das wurde zum Glück auch so verstanden.

„Leben heißt, sich schuldig zu machen.“

Die Sprengkraft in „Edward II.“ erschließt sich im Vergleich: Vor einem Jahr gab es in der ufa-fabrik Tempelhof ein Gastspiel der Münchner Philhomoniker mit der Comic-Choir-Oper „Queen Edward II“ von Alexander Strauch. Auch das ist ein Stück gegen den Mainstream. Aber gerade mit dieser Spiegelung zeigt sich, wie weit Thomas Jonigk über die Tragödie Christopher Marlowes, Holinsheds Chronicle und Derek Jarmans Film hinausdenkt. Im Gleichschritt von Text, Musik und Szene geht es in „Edward II.“ um mehr als schwules Melodrama. Die Oper endet vor der Hinrichtung König Edwards II., den man für die offen gelebte Liebe zum Emporkömmling Gaveston und politische Fahrlässigkeit 1327 auf Schloss Berkeley eine glühende Eisenstange mit Kuhhorn in den After einführte. Museumsbesucher erfahren das am Ende der Oper von zwei flockigen Tourguides. Affektive Überwältigung wird am Ende also in einen Rahmen gestellt.

Schade ist diese Distanzierung. „Leben heißt, sich schuldig zu machen.“ Das gilt in Scartazzinis Oper für alle, Schwule und Heterosexuelle. Das zweite Thema ist die Verführbarkeit des Mobs zu Hass und Gewalt. Die Abläufe gleichen sich, wenn die Kirche im finsteren Mittelalter zum Kampf gegen „Sodomiten“ hetzt und der toppsicher agierende Chor sich zur Demonstration gegen „Homoehe“ und „LGBT-Eltern“ zusammenballt.

Korruption der Macht

© Monika Rittershaus

Burkhard Ulrich © Monika Rittershaus

Burkhard Ulrich

Den Anspruch auf Glück gab es schon im Mittelalter, für das Annette Kurz eine Kathedrale auf die fast leere Bühne setzt. Klaus Bruns steckt die Solisten in heutige Kostüme. Ein Ballerinenkleid, wie es in Edwards Alptraum seinem Gaveston blutverschmiert am Leib haftet, wie es Edwards unglückliche Frau Isabella trägt, bevor sie zum Vamp der Macht wird, hat Symbolmehrwert. Wenn Edward II. den Bischof von Coventry, durch Burkhard Ulrich erst recht ein feist-fieser Machtmensch, in den Tower werfen lässt, und am Ende angstvoll einknickt, ist die Einheit der Zeitläufe greifbar. James Kryshak schleicht als Berufskiller und eisiger Agent industrieller Tötungsbürokratie umher, Edward II. wird zum dokumentarischen Mysterienspiel.

Kratzende, scharrende Intimkatastrophen

© Monika Rittershaus

Ladislav Elgar © Monika Rittershaus

Ladislav Elgar

Schon im Vorfeld kochte die Neugier auf den riesigen Apparat im Orchestergraben und das gewaltige Tonequipment, über das Thomas Søndergárd zu walten habe, hoch. Umso größer die Überraschung, dass Scartazzini neben gewaltigen und extrem dichten Klangballungen von Reimannscher Intensität in sich ganz zurücknehmende Wirkungen fällt. Edwards Angst und Isabellas Begehren schälen sich aus geräuschartigen Klängen. Aus Kratzen, Scharren, hallenden Schritten. Toninventaren wie aus dem Film Noir werden satzartige Formgebilde in dieser Partitur, die bis zum allerletzten Takt eine faszinierende Klangvielfalt hält. Dann tönen Stimmen gläsern, klirrend, eisig über feinsten Streicher- und Percussion-Reibungen. Manchmal glaubt man Reminiszenzen an Früheres zu vernehmen, diese weiten sich zu ganz hohem Eigen- und Spannungscharakter. Auch darin spannend, dass Scartazzini Edwards und Gavestons Musiken wie aus einem erotischen Techno-Labyrinth fluten lässt. Dieses Tonmaterial sekundiert dann reißend die realen Gefahren für Juden und Homos. Klänge zwischen echter Gewalt und verführerischen Gewaltfantasien.

Neben diesen explizit schwulen Klangkonnotationen wird die frustrierte Königin Isabella zur Primadonna, die im Racherausch Sympathiepotenzial hat. Agneta Eichenholz wirft sich mit „Lulu“-Souveränität in einen Primadonnen-Part von schon anachronistischer Intensität. Isabellas Schicksal macht ebenso frösteln wie das der beiden Männer.

Irdische und himmlische schwule Liebe

© Monika Rittershaus

Jarrett Ott, Michael Nagy, Georgij Puchalski © Monika Rittershaus

Jarrett Ott, Michael Nagy, Georgij Puchalski

Scartazzini nutzt jedes Komma, jede Pause aus dem Textbuch Thomas Jonigks, das schon bei der Lektüre wirkt, als atme es dramatische Musik. Jonigk weiß Worte und Sätze zu runden, Scartazzini kann so aus Gesangparts intensive Power modellieren. Erst spät, nach der Trennung von Gaveston, rutscht Edwards Stimme hinunter in den zentralen Bariton-Kern. Er, auch Gaveston, auch der Engel (Jarrett Ott ist mehr viriler Todesbote als „Transvestit“) bewegen sich in tiefen Tenor- und hohen Bariton-Lagen. Obwohl die Stimmen kaum zusammen erklingen, verschmelzen sie zur hypnotischen Parallelwelt neben der konturlosen Heteronormativität. Da gelingt Michael Nagy in der Titelpartie und Ladislav Elgr, der hier als Gaveston endlich auch lyrischer Tenor ist, die Einheit von vokaler Wahrheit, intelligent hingebungsvoller Gestaltung und brennenden Stichflammen künstlerischer Wahrhaftigkeit. Es gibt viele körperliche Berührungen, viel sexuelles Umranken, viele offene Männerhemden und viele Geschlechtsakte. Männer suchen das transzendente Nirwana im irdischen. Aber Christof Loy zeigt mit den als Soldaten, Räte und Priester auftretenden Spießern, dass es auch eine kleinkarierte Welt gibt. Man spürt bei Markus Brück „mit derber Pranke“ und Gideon Poppe „mit gebrochenem Handgelenk“ die Lust am zwischen die Beine greifenden Rüpelspiel und aggressiven Kalauern.

Es sind also keine Supermodels, die den Ton angeben. Deshalb generiert Christof Loy den langhaarigen Lustengel mit dem aussagekräftigen Namen „Spencer Jr.“. Der junge Gieorgij Puchalski ist ein androgynes Phantom schwuler Phantasien, von denen ahnungslose Vollstrecker wie Isabellas schnell abgekanzelter Lover Mortimer (Andrew Harris) gar keine Ahnung haben. Allenfalls der junge Prinz Edward, auf dem der Anspruch erhöhter Genderkompetenz lasten wird. Diese Grand opéra wagt mit dieser großen Rolle noch ein letztes, nämlich das Solo für Knabensopran als Bravourstück. Mattis von Hasselt singt das betörend. Dieser Bericht, den er vom Tod Gavestons gibt, ist geballte Psychopower für Mattis von Hasselt selbst und das gesamte Auditorium. Da ist es im Saal still wie bei „Lucia di Lammermoor“ oder „Norma“.

Deutsche Oper Berlin
Scartazzini: Edward II.

Ausführende: Thomas Søndergárd (Leitung), Christof Loy (Regie), Annette Kurz (Bühne), Klaus Bruns (Kostüme), Raymond Hughes (Chöre), Michael Nagy (Edward II.), Agneta Eichenholz (Isabella), Ladislav Elgr (Piers de Gaveston), Andrew Harris (Roger Mortimer), Burkhard Ulrich (Bischof von Coventry), James Kryshak (Lightborn), Jarett Ott (Engel), Markus Brück und Gideon Poppe (2 Soldaten, 2 Räte, 2 Geistliche, 2 Wärter, 2 Tourguides), Mattis van Hasselt (Prinz Edward), Gieorgij Puchalski (Spencer Jr.), Chor der Deutschen Oper Berlin, Orchester der Deutschen Oper Berlin

Kommentare sind geschlossen.