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Opern-Kritik: Staatstheater Nürnberg – Siegfried

Siegfried liebt Nutella

(Nürnberg, 19.04.2015) GMD Marcus Bosch läutet mit rhythmisch geschärfter Klangrede ein neues Kapitel der musikalischen Wagner-Interpretation ein

vonPeter Krause,

Der mutmaßlich erste alleinerziehende Stiefvater der Operngeschichte haust mit seinem pubertär trotzköpfigen Filius im aggressionsfördernden Ambiente einer Einzimmerwohnung: Zwischen Waschmaschine, Herd, Kühlschrank und Etagenbett wuselt dieser Papa Mime in chronischer Überforderung des Multi-Tasking herum – Männer sind für diese mütterliche Kernkompetenz eben einfach nicht geschaffen. Peter Galliard, als Gast von der Hamburgischen Staatsoper am Staatstheater Nürnberg, singt und spielt den Mime wunderbar wendig, auch mit wohldosiert witziger Schmierigkeit, wo es gilt, die fiesen Absichten des benachteiligten Underdog vokal zu vermitteln: Er will durch die Instrumentalisierung seines Ziehsohns schließlich an den Macht verheißenden Ring herankommen.

Trash-Komödie im Hartz 4-Prekariat

Eine temporeich bitterböse Trash-Komödie im Hartz 4-Prekariat inszeniert Georg Schmiedleitner somit in diesem Siegfried, mit dem der neue Nürnberger Ring – bislang in der Opernszene als sensationeller Geheimtipp gehandelt –

bestimmten Schrittes in die Zielgerade einbiegt. Im Oktober folgt die finale Götterdämmerung.

Märchenhafte Konkretisierung: Der gelungene Spagat der Wagner-Regie

Schießt Schauspielmann Schmiedleitner mit seinem Aktionismus des 1. Aufzuges und der allgemeinen gag-verliebt einseitigen Verortung der Geschichte im Proletariat der Gegenwart mitunter durchaus über das Ziel hinaus, sorgt er freilich auch für nie nachlassende Bühnenspannung – langweilig wird der Abend nie. Erste Klasse erreicht die Inszenierung im zweiten Aufzug. Denn hier schafft der Regisseur gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Stefan Brandmayr den für die Wagner-Regie so entscheidenden Spagat: Eine Bildfindung, bei der die realistische Konkretisierung und Aktualisierung durch eine märchenhafte Abstraktion in die vielschichtige Schwebe und assoziative Offenheit gebracht wird. Die Neidhöhle, in der Riese Fafner den Nibelungenhort bewacht, ist eine lange verlassene Autobahn-Baustelle in the middle of nowhere. Von romantischen Naturbildern fürs musikalische Waldweben ist da keine Spur mehr in dieser spätzivilisatorischen Einöde. Und doch birgt das Bild Magie-Potenzial. Die Autobahn-Elemente beginnen sich mit dem Auftritt Fafners zu bewegen, schwingen bedrohlich auf und ab – nur ein furchtloser Held namens Siegfried kann den Showdown auf diesen fliegenden Bauten unbeschadet überstehen und bringt den Riesen dabei fast zufällig, seinen Ziehvater ziemlich spontan, wie im Affekt ums Leben.

Ein enormer Sängerdarsteller: Jung-Siegfried Vincent Wolfsteiner

Überhaupt ist der junge Siegfried ein Ereignis, dank des enormen Sängerdarstellers Vincent Wolfsteiner: Die unbedarfte Gewalttätigkeit des späten Knaben paart der Tenor mit einer scheinbaren stimmlichen Unbekümmertheit: Hell, klar und durchdringend, ohne jede Ermüdung singt Wolfsteiner mit Strahlkraft, Frische und Mühelosigkeit – das ist furchtloser Wagner-Gesang der Mammutpartie und die ideale Personifizierung eines angstfreien Helden, dem erst in der Begegnung mit einer Frau seine allzu männlichen Grenzen aufgezeigt werden. Im Schlussduett von Brünnhilde und Siegfried arbeitet der Regisseur die Psychologie dieses ungleichen Paares gut heraus: Männliche Primitivität von schnellem Sex und kühlem Bier treffen auf weibliche Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, Entgrenzung und wahrer Liebe. Schade, dass sich der herrliche Humor des Regisseurs – Siegfried liebt Nutella, mit einem vergifteten Glas der Schoko-Creme versucht Mime ihn um die Ecke zu bringen – am Ende auch mit Respektlosigkeit paart. Die holt Wagner zwar vom Sockel, nimmt diesem Siegfried-Satyrspiel aber auch seine Tiefe, die doch erst den Weg zur Tragödie der Götterdämmerung ebnet.

Die musikalische Interpretation: Ein Ausnahmeereignis

Der szenisch streitbaren Wagner-Deutung steht eine musikalische Interpretation gegenüber, die einem Ausnahmeereignis gleicht. Denn GMD Marcus Bosch macht mit seiner Staatsphilharmonie Nürnberg wahr, was sich viele Dirigenten, darunter Gerd Albrecht oder Christoph von Dohnányi, zwar vorgenommen haben, aber nur wenige, wie ein Pierre Boulez mit seiner temporeich entschlackten Bayreuther Lesart von 1976 bis 1980, ansatzweise verwirklichten. Bosch dirigiert einen Wagner der rhythmisch geschärften Klangrede, der maximal akzentuierten Detailschärfe. Dieser Siegfried hat ein am Wortwitz orientiertes Tempo, er vibriert pathosfrei und verbindet die sprechende Präzision der kleinen Notenwerte mit der weit disponierenden Kunst des feinsten Übergangs. Boschs Musizieren in hellwacher Deutlichkeit ist dabei voller Flexibilität und Beweglichkeit, durch die er die Sänger wie auf Händen trägt, es ist voller Transparenz, durch die er das polyphone Flechtwerk der Partitur aufregend offenlegt und bislang Ungehörtes, ja Unerhörtes hörbar macht.

Wagners tatsächliche wie heimliche Vorbilder scheinen durch

Auf den Wagner-Wumm muss dabei niemand verzichten, nur Bosch engt den Bayreuther Meister eben nicht auf die Vorurteile der Unkundigen ein. Seine Orientierung an den Scherzi Beethovens, der Poesie Schumanns und der Helligkeit Mendelssohns verortet Wagner dabei durchaus im Umfeld von dessen tatsächlichen wie heimlichen Vorbildern. Doch Bosch lässt Wagner auch moderner werden, als man das gewohnt ist. Denn auf Debussys Fein-Farbigkeit wie Bergs psychische Polyphonie wird man an diesem auf besondere Weise inspirierten Abend immer wieder gleichsam voraushörend verwiesen.

Ein Wagner-Ensemble erster Güte

Die Sänger profitieren natürlich von Boschs Haltung. Man versteht von fast allen fast jedes Wort. Niemand muss forcieren oder mit dem bangen Blick auf die kräfteraubende Länge des Werks den stimmlichen Einsatz dosieren. Neben den beiden Tenören, die viele der derzeit prominenten Rollenvertreter in den Schatten stellen, begeistern auch die Baritone des Alberich und des Wotan-Wanderers auf echtem Welt-Niveau: Das sind Martin Winkler als düster deklamierender, perfekt charakterisierender cooler Möchtegerrn-Aufsteiger und Antonio Yang als hell, schlank und balsamisch wie wortklar singender Aussteiger-Lichtalbe, der den traurigen Gott als Edelpenner mit Hackenporsche von den letzten Resten deutschtümelnder Göttlichkeit befreit. Mit Rachel Tovey als Hochdramatischer alter Schule, die sich nur das finale hohe C spart, rundet sich ein Wagner-Ensemble erster Güte, das es mit der aktuellen Bayreuther Besetzung mehr als aufnehmen kann.

Staatstheater Nürnberg

Wagner: Siegfried

Ausführende: Marcus Bosch (Leitung),Georg Schmiedleitner (Inszenierung),Stefan Brandmayr (Bühnenbild), Alfred Mayerhofer (Kostüme), Vincent Wolfsteiner, Peter Galliard, Antonio Yang, Martin Winkler, Rachael Tovey, Staatsphilharmonie Nürnberg

Weitere Infos zum Staatstheater Nürnberg finden Sie hier.

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