Porträt Helmut Lachenmann

Auf der Suche nach dem Körperlichen in der Musik

Ein Gespräch mit Helmut Lachenmann, dessen Das Mädchen mit ­ den Schwefelhölzern seine Berliner Erstaufführung an der Deutschen Oper feiert

Das Mädchen friert bitterlich. Es nimmt ein Schwefelhölzchen. Ritsch! Ein wunderbarer Moment des Lichts, des Glücks, der Wärme entsteht. Helmut Lachenmann hat „ein Riesenfestival von ‚Ritsch‘-Bewegungen“ erfunden, sagt er und erklärt mir, auf welchen Wegen man „das Ritsch“ mit klassischen Instrumenten erzeugen könne: „Wenn ich mit einem Plektrum bei getretenem Pedal über die tiefen Saiten eines Steinway fahre, dann brennt sozusagen der ganze Flügel.“

Bildreich, ja überaus anschaulich und enorme Lust und Neugierde weckend, so vermag der 1935 in Stuttgart geborene Komponist von seiner Arbeit zu plaudern. Die Uraufführung seiner ersten und bislang einzigen Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern geriet 1997 in Hamburg zu einer Sensation, die in dieser Einhelligkeit wohl niemand erwartet hatte. Jede Vorstellung war ausverkauft. Die Musik des immer noch als Provokateur und Verweigerer von Schönklang und Erwartungen geltenden Schwaben – sie begeistert und berührt die Menschen. Und das darf und soll sie auch – im durchaus körperlichen Sinne freilich. Lachenmann spricht von „dieser körperlichen Erfahrung von Musik“, ein Effekt, auf den vor ihm, dem einstigen und einzigen Schüler von Luigi Nono, allerdings schon Ludwig van Beethoven gesetzt habe: „So ein Fortissimo-Paukenschlag im Scherzo der Neunten ist ein körperlicher Schock.“ Beethoven habe eben mit unserem Verständnis von Schönheit als dem Genuss von gewohnter Wohligkeit nichts zu tun: „Das ist doch eine unglaublich sperrige Musik. Ist die Neunte schön? Sie ist mehr als schön, sie ist geistvoll!“

 

In seiner Suche nach „der körperlichen Intensität von Musik“ beruft sich Lachenmann auf Haydn und Mozart ebenso wie auf Bruckner, Mahler und Strauss. „Viele Menschen achten beim Hören ja immer nur auf das, was sie vermissen. Sie leiden, wenn es nicht so schön musikalisch ist. Sie wollen in der warmen Badewanne ihrer Gewohnheiten sitzen.“

 

Es müssten die Dirigenten mehr wagen, damit Konzert und Oper als echtes Abenteuer erlebt werden: „Die Leute zahlen viel Geld für Bungee-Jumping und Wildwasserfahrten, sie wagen sich auf Wanderungen durch die Wüste oder auf Bergesgipfel. Aber im Konzertsaal scheint Bequemlichkeit angesagt. Sowohl die Musiker als auch die Hörer sollten abenteuerbereit werden. So stelle ich mir ein ideales Musikleben vor. Leider ist es mehr oder weniger gelähmt von standardisierten Schönheitsvorstellungen.“ Schönheit werde heute allzu gern verkürzt auf ein „gastronomisches Genusserlebnis“. Lachenmann geht es hingegen um die Erfahrung von Authentizität.

 

Um ein solches Erlebnis von Kunst musiktheatralisch zu ermöglichen, ist das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern nach Hans Christian Andersen natürlich eine Steilvorlage. Und um sie für sich zu nutzen, hat Lachenmann zunächst den Text von Hand abgeschrieben und als ersten Schritt der Entstehung einer Partitur mit Anmerkungen versehen: „Wie bei der Instrumenten-Anordnung in einer Partitur so notierte ich den Textanfang ‚Es war fürchterlich kalt, es schneite‘ ganz oben in die Reihe der ‚metereologischen Situationen‘, darunter unter die Rubrik ‚Tageszeit‘: ‚und begann, dunkler Abend zu werden‘. Darunter ‚Bewegungen des Mädchens‘: ‚ging ein kleines Mädchen‘, ‚schlich sie einher‘, ‚hockte sie sich hin und kauerte sich zusammen‘. Irgendwann füllt sich die Rubrik ‚Ritsch‘. Das ist der Moment, in dem sie – nach Marx – den Tauschwert in den Gebrauchswert verwandelt. Statt sie zu verkaufen benutzt sie die Hölzchen, um sich zu wärmen. Das ist in Miniform eine Revolution.“

 

Diese Geschichte mit ihrer klaren Kritik des Kapitalismus birgt dennoch die Gefahr des Rührseligen. Ihr musste Lachenmann begegnen. Und er entschied sich für einen unerhörten Kunstgriff: Er ergänzte Andersens Text um einen Brief von Gudrun Ensslin. Von Kindheit an kannte Lachenmann die spätere RAF-Terroristin, die mit seiner jüngeren Schwester zur Schule gegangen war: „Sie war die Klassenbeste, idealistisch gesinnt, umso mehr entsetzt über die Durchpeitschung der Notstandsgesetze 1968.“

Ensslin reflektiert die Ohnmacht des Menschen, nimmt wahr, wie Demonstranten mit Wasserwerfern kaltgestellt und, vor allem durch die Bild-Zeitung, kriminalisiert werden. Schließlich zündet sie einen Supermarkt an. „Das Andersen-Märchen, bei dem die bürgerliche Geborgenheit als weihnachtlicher Geruch aus allen Fenstern quillt, lässt sich leicht wegstecken gleichsam als rührender Schmachtfetzen. Ich wollte die Geschichte öffnen.“ Ensslins Text, der im Gegensatz zum „furchtbaren Jargon“ ihrer Mitkämpfer „fast wie ein Kunstwerk“ klinge, er fängt an mit den Worten: „Der Kriminelle, der Wahnsinnige, der Selbstmörder – Sie verkörpern diesen Widerspruch – Sie verrecken in ihm“. Wenn das kleine Mädchen alle Streichhölzer verbraucht hat und stirbt, will der Komponist durch Enss-lins Brief die Brutalität der Geschichte schärfen. Die Terroristin sei „auch ein Mädchen mit Schwefelhölzern“ gewesen: „Hätte das kleine Mädchen aus dem Märchen die Nacht überlebt, wäre vielleicht irgendwann eine Gudrun Ensslin aus ihr geworden, eine die kämpft, gewaltsam agiert und nicht einfach hilflos stirbt“, sagt Lachenmann, der in England immer noch als „ein Left-Wing-Composer“ gilt: „Man kann sich offenbar nur auf dem Umweg über Missverständnisse allmählich durchsetzen.“

 

Lachenmann macht nun die gesellschaftliche Kälte, an der das Mädchen stirbt, unmittelbar hörbar und spürbar. „Meine Oper fängt mit einem ewig gehaltenen hohen As in der viergestrichenen Oktave an der unteren Wahrnehmbarkeits-Grenze an, Klang gleichsam als meteorologischer Zustand. Hoffen wir, dass die Lüftung im Saal ihn durchlässt.“ In den Proben hat Lachenmann den Musikern die Assoziation mitgegeben: „Ihr müsst sozusagen in der Polargegend spielen. Das sind Töne im ewigen Schnee.“

 

Auch im Orchestergraben zieht es gewissermaßen. Um solcherlei Effekte hervorzurufen, reichen die alten bürgerlichen Kategorien der Musik nicht mehr. „Für viele Komponisten ist Musik ganz selbstverständlich jenes vertraute Vehikel, das sich bestimmt aus den Kategorien Melodie, Harmonie und Rhythmus. Dafür machen sie im Studium den Führerschein, setzen sich in das Vehikel und fahren los. Ich will mein Vehikel in jedem Werk selber bauen, neu konzipieren, und behalte mir vor, es gleichsam zuschanden zu fahren. Ich versuche, mich beim Komponieren mit dem Begriff ‚Musik‘ immer wieder aufs Neue auseinanderzusetzen, ihn immer wieder anders zu definieren.“ So ging aus seiner Feder eine „Musik für Cello“ ebenso hervor wie die „Musik mit Bildern“, wie Lachenmann seine Oper bezeichnet hat. Die Devise seines Komponierens heißt: „über Musik jedesmal neu nachdenken.“

 

Seine Gedanken führen den bekennenden Fan von Ennio Morricone dabei immer wieder zum Magischen in der Musik. Lachenmann schwärmt vom jenem Es-Dur-Dreiklang, mit dem Bruckners Vierte anhebt: „Da ist nun der ganze Saal voll tremolierendem Es-Dur an der unteren Hörgrenze. Und der Musiklehrer, der Prokurist, der Hochschulprofessor und der musikliebende Postbote sitzen nebeneinander im Saal und sind gemeinsam erfüllt, quasi geladen von diesem zitternden Es-Dur. Auch in Wagners Rheingold-Beginn badet man gemeinsam fünf Minuten in wogendem Es-Dur. Ich auch. Ich mache mir aber diesen Zustand zugleich bewusst.“ Und er hat auch seine jüngste Tochter beobachtet, als sie auf Techno-Parties ging: „Das war Magie von der Stange, Magie als kommerzielle Dienstleistung.“

 

Im geistvoll kreativen Umgang mit den magisch geladenen Mitteln setzt die europäische Musik als Kunst vielleicht dort an – bescheidener und menschlicher –, wo die eta-blierten Religionen in der Zeit der Aufklärung ihre absolute Autorität verspielt hatten. Die Kunstmusik von der frühen Mehrstimmigkeit bis zu John Cage sei in all ihren unterschiedlichen Ausprägungen „reflektierte und insofern gleichsam gebrochene Magie“. Am besten gefällt Lachenmann dafür das englische Wort einer „suspended magic“. Gebrochene Magie. Das ist Oper. Lachenmann ist gespannt, wie sich seine Vision von Bildern und Magie einlösen wird in der Berliner Premiere. Und er rät zum Schluss: „Man soll nicht verzweifelt versuchen, zu verstehen. Was kann man schon ‚verstehen‘? Können wir unsere Kinder, können wir uns selbst verstehen? Ich empfehle, im Hören zu beobachten, was geschieht: neugierig, abenteuerbereit nach allen Richtungen, beobachten aber auch, was in uns geschieht.“

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