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Reportage Georg Philipp Telemann

„Talent der flachsten Art”

Für die einen ist Georg Philipp Telemann nur ein Vielschreiber, für die anderen Quell unerschöpflichen Erfindungsreichtums – heute jährt sich sein Todestag zum 250. Mal

vonSören Ingwersen,

„In Wirklichkeit war er nur ein Talent der flachsten Art. Dazu kommt aber noch, dass ihm auch der künstlerische Ernst in bedenklicher Weise mangelt, der Ernst, der allezeit in die Höhe nach dem Ideal blickt und nie nur darauf denkt, was dem großen Haufen am besten gefällt.“ Diese nicht eben schmeichelhafte Charakterisierung Georg Philipp Telemanns aus der „Encyklopädie der evangelischen Kirchenmusik“ von 1894 spiegelt die im 19. Jahrhundert vorherrschende Meinung über einen Komponisten wider, der auch heute noch im Schatten der barocken Glanzlichter Bach und Händel steht. War Telemann wirklich nur ein seelenloser Karrierist, ein seichter Unterhalter und gefälliger Klangmaler?

Ein Musiker in unserer Familie? Undenkbar!

Als jüngstes von sechs Kindern erregen die musikalischen Fähigkeiten des 1681 in Magdeburg geborenen Georg Philipp schon während der Schulzeit Aufmerksamkeit. Als sich der Zwölfjährige jedoch an das Komponieren einer Oper wagt, schlägt die Verwandtschaft Alarm. Man will keinen Musiker in der von Geistlichen, Lehrern und anderen Akademikern dominierten Familie haben, schickt den Jungen nach Zellerfeld in die Obhut des Gelehrten Caspar Calvör, um ihm die musikalischen Flausen auszutreiben. Doch Calvör liebt die Musik und spornt seinen neuen Zögling auf diesem Gebiet erst recht an. Georg Philipp, der sich schon früh selbst das Spiel auf Violine, Flöte, Zither und Klavier (Cembalo) beigebracht hat, erweitert (wiederum autodidaktisch) seine Instrumentalkenntnisse, komponiert Musik für Hochzeiten, Taufen und Schauspiele sowie Motetten und Kantaten. Als der Zwanzigjährige nach Magdeburg zurückkehrt, hat die Familie allerdings andere Pläne mit ihm: Er soll Rechtswissenschaften in Leipzig studieren. Doch auch dort wird man auf sein musikalisches Talent aufmerksam. Knapp drei Jahre später ist Georg Philipp Telemann Operndirektor sowie Musikdirektor der Neuen Kirche, der damaligen Universitäts-Kirche, und gut befreundet mit dem in Halle ansässigen Georg Friedrich Händel.

Einer der bestverdienenden Frankfurter seiner Zeit

Doch lange hält es Telemann nicht in Leipzig. 1705 folgt er dem Ruf des Grafen von Promnitz, als Kapellmeister an dessen Hof nach Sorau, drei Jahre später wechselt er in gleicher Position nach Eisennach an den Hof des Herzogs Johann Wilhelm, wo ihm der Titel eines „Sekretärs“ verliehen wird – für den bürgerlichen Telemann, der inzwischen auch mit Johann Sebastian Bach befreundet ist, ein immenser Prestigegewinn, der möglicherweise auch seine Berufung zum Kirchenmusikdirektor in Frankfurt am Main im Jahr 1712 günstig beeinflusst. Hier heiratet Telemann, nachdem seine erste Ehefrau Luise Juliane 1711 im Kindbett gestorben ist, Maria Catharina Textor, die in den kommenden Jahren sechs Kinder zur Welt bringt, drei weitere werden in Hamburg folgen. Mit jährlichen Einkünften von 1600 Gulden gehört er nun zu den Höchstverdienern in Frankfurt, so dass er verlockende Angebote für Ämter als Hofkapellmeister in Gotha und Weimar ausschlagen kann – nicht ganz freiwillig, wie aus einem Brief hervorgeht, in dem Telemann schreibt, dass er schließlich seiner „winselnden Ehegattin“ versprechen musste, in Frankfurt zu bleiben.

Komponist, Veranstalter und Verleger in Personalunion

Längst hat Telemann mit seinen Kantaten, Konzerten, Suiten und seiner „Brockes-Passion” zu einer eigenen Tonsprache gefunden. Wie sehr er in Frankfurt die Oper vermisst, zeigt indes die Komposition seiner Oper „Der geduldige Sokrates”, die 1721 in Hamburg uraufgeführt wird. In diesem Jahr stirbt auch Joachim Gerstenbüttel, Musikdirektor der fünf Hamburger Hauptkirchen und Kantor am Johanneum. Als Deutschlands berühmtester Musiker erhält Telemann das Angebot, dessen Nachfolge anzutreten – und willigt ein.

Telemann-Museum Hamburg
Telemann-Museum Hamburg © Christina Czybik

Abgesehen von kleineren Reisen und einem mehrmonatigen Aufenthalt in Paris 1737 – ein Jahr zuvor hat er seine spielsüchtige Ehefrau aus dem Haus geworfen –, verbringt er seine restlichen 46 Lebensjahre in Hamburg. Dort leitet er auch 16 Jahre lang die Gänsemarktoper, für die er rund 20 Werke komponiert. Außerdem entstehen eine große Anzahl an Kantaten, Passionen, Oratorien, „Kapitänsmusiken“ für die Feierlichkeiten der Offiziere der Bürgerwache sowie unzählige Konzerte und Orchestersuiten, mit denen Telemann das bürgerliche Konzertwesen jenseits von Hof und Kirche begründet. Neben dem nicht allzu üppigen Staatssalär hat er so auch als Konzertveranstalter im Drillhaus, im Eimbeckschen Haus und im Konzertsaal „auf dem Kamp“ Einnahmen zu verzeichnen. Er verkauft Eintrittskarten und Textbücher, kämpft um das Urheberrecht, vertreibt seine Noten im eigenen Verlag, findet europaweit Subskribenten für seine „Tafelmusik”, gründet das Musikalien-Journal „Der getreue Musikmeister” und erweist sich als überaus tüchtiger Geschäftsmann.

3 600 Kompositionen – Masse ohne Klasse?

Dies und seine hohe Produktivität – Telemann schuf in seinen 86 Lebensjahren über 3 600 Werke und damit mehr als doppelt so viel wie Bach und Händel zusammen – bringen ihm nach seinem Tod im Jahr 1767 den Ruf eines „Vielschreibers“ ein, der sich zu sehr am Geschmack des Publikums orientierte. Außer Acht gelassen werden dabei Telemanns immenser Einfallsreichtum, sein unerschöpflicher Humor, seine Experimentierlust und seine Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem, was in Werken wie „Die Auferstehung”, „Der Tag des Gerichts” oder „Ino” zu harmonischen Wagnissen führt, die weit über die Epoche des Barock hinausweisen. Telemann führte die Stile aus Frankreich, Italien und Polen zusammen, er schuf Sonaten und Konzerte für fast alle damals in Mitteleuropa bekannten Instrumente und befreite die Oper von ihrer künstlich-manierierten Ausdrucksweise.

Postume Fehleinschätzungen

Doch mit Beginn der Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert wurde die Musik von Bach und Telemann zunehmend gegeneinander ausgespielt – wobei letzterer in der Regel den Kürzeren zog. Der bürgernahe, erfolgsverwöhnte Künstler Telemann passte einfach nicht ins Bild des unverstandenen, weltentrückten Genies, wie es die Romantiker propagierten. Die daraus resultierende Fehleinschätzung von Telemanns Leistung wirkt bis heute fort. Viele seiner Werke – unter denen sich selbstredend auch weniger gelungene befinden – harren noch einer Wiederentdeckung. Ebenso bleibt zu hoffen, dass neben „Pimpinone” auch die zehn anderen vollständig erhaltenen Telemann-Opern wieder den Weg in die Spielpläne finden. 250 Jahre nach Telemanns Tod, ist es an der Zeit, das zu tun, was Hamburgs berühmtesten „Director musices“ bis ins hohe Alter so leicht fiel: umdenken und neue Sichtweisen zulassen.

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