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Klassik meets Jazz: Paul Hindemiths „Ragtime (wohltemperiert)“

Vatermord!

Mit seinem Orchesterstück „Ragtime (wohltemperiert)“ wagte sich Paul Hindemith als erster Komponist an eine verjazzte Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs Musik

vonJohann Buddecke,

Bei dem angefügten Titelzusatz von Paul Hindemiths „Ragtime (wohltemperiert)“ horcht der klassikbegeisterte Musikhörer sofort auf. Und das zu recht. Die Anspielung auf Johann Sebastian Bachs zweiteilige Sammlung „Das Wohltemperierte Klavier“ ist schließlich unübersehbar. Nur haben Bachs legendäre Präludien und Fugen augenscheinlich recht wenig mit dem Klavierstil des Ragtime zu tun, der als Vorläufer des Jazz in die Musikgeschichte eingegangen ist.

Für den 1921 26-jährigen Paul Hindemith hingegen schienen sich Bachs barocke Kompositionen und der noch in den Kinderschuhen steckende Jazz offensichtlich näher zu sein, als es bisher jemandem aufgefallen war. In seinem „Ragtime (wohltemperiert)“ führte er beide Genres zusammen und stellte fest, dass sie sich ähnlicher sind als zunächst angenommen.

Waghalsige Experimentierfreude

Hindemith, der zu Beginn der 1920er-Jahre bereits auf dem besten Weg war, sich als Komponist zu etablieren, fand wie viele andere Komponisten großes Interesse an der andersartigen Musik aus den amerikanischen Südstaaten. Seine Experimentierfreude trieb ihn an, die zunächst grotesk wirkende Zusammenführung beider Gattungen zu wagen. Warum nicht das „Heilige“ mit dem „Profanen“ mischen? Beiläufig entdeckte er, wie sehr der jazztypische Walking Bass mit dem barocken Basso continuo im Einklang stand, der von diversen Jazzmusikern bis heute als legitimer Vorgänger ihres Bassfundaments betrachtet wird.

Aber ganz so ernst wollte es Hindemith dann doch nicht sehen, wie aus einem Briefzitat an seinen Verleger Willy und Ludwig Strecker deutlich hervorgeht: „Können Sie auch Foxtrotts, Bostons, Rags und anderen Kitsch gebrauchen? Wenn mir keine anständige Musik mehr einfällt, schreibe ich immer solche Sachen“, teilte er beiden kurz vor der Vollendung seines „Ragtime (wohltemperiert)“ mit ironischem Unterton mit.

„Ragtime (wohltemperiert)“

Als Grundlage für seine als Orchesterstück und als Bearbeitung zu vier Händen erhaltene Ragtime-Komposition dient Bachs Fuge Nr. 2 c-Moll, BWV 847 aus dem ersten Teil des „Wohltemperierten Klaviers“, die Hindemith in fast schon jazztypischer Manier bearbeitete. Obwohl das Originalthema Bachs harmonisch verfremdet, in eine andere Ton- und Taktart versetzt und zudem metrisch durch jazztypische Synkopen geschärft wurde, ist es eindeutig herauszuhören. Zudem behielt Hindemith den Fugencharakter der Vorlage auch im tänzerischen Ragtime-Rhythmus bei.

Fuga Nr. 2 c-Moll BWV 847
Fuga Nr. 2 c-Moll BWV 847 © jobu0101, gesetzt mit PriMus/Wikimedia Commons

Insgesamt kam die Bearbeitung zu Beginn der 1920er-Jahre rundum einem musikalischen Vatermord gleich, obwohl es zu Bachs Lebzeiten durchaus üblich war, Material andere Komponisten weiterzuentwickeln. Hindemith war sich sicher, dass Bach seine Bearbeitung gefallen hätte und erklärte schriftlich: „Glauben Sie, Bach dreht sich im Grabe herum? Er denkt nicht dran!“ Trotzdem wurde das Werk zu seinen Lebzeiten nicht aufgeführt.

Was von Hindemiths Zeitgenossen noch als Provokation und unpassende Parodie aufgefasst wurde, wandelte sich erst im Laufe der Rezeptionsgeschichte, sodass der „Ragtime (wohltemperiert)“ schließlich 1987 durch das Radio-Symphonie-Orchester Berlin uraufgeführt wurde.

Hindemiths Vorlage: Johann Sebastian Bachs Fuge Nr. 2 c-Moll, BWV 847:

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Paul Hindemiths „Ragtime (wohltemperiert)“:

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