Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109

Bruckner arbeitete zehn Jahre lang bis zu seinem Tod an seiner letzten Sinfonie, die er „dem lieben Gott“ gewidmet hat.

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Anton Bruckner, Gemälde von Hermann von Kaulbach, 1895

Anton Bruckner, Gemälde von Hermann von Kaulbach, 1895

„Die Neunte ist Fragment geblieben – ein vollendetes Fragment: zwei feierlich ruhige Sätze umrahmen ein totentanzähnliches Scherzo, das seinerseits ein traumartig dahinhuschendes Trio umfasst – dieses ungreifbarste aller Bruckner’schen Wesen wird zum lächelnden Mittelpunkt dieses tiefernsten Werkes“, fasst Mathias Husmann in seiner Werkeinführung Bruckners neunte Sinfonie zusammen.

Schwer krank aber entschlossen

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Bruckner Sinfonie Nr. 9 mit Te Deum
Bruckner Sinfonie Nr. 9 mit Te Deum (Transkription für Klavier zu vier Händen)

Nach ersten Überlegungen zu seiner neunten Sinfonie im Sommer 1887, begann Bruckner das feierliche Adagio im April 1894 zu skizzieren. Zu diesem Zeitpunkt war der Komponist bereits seit zwei Jahren krank. Neben Herz- und Niereninsuffizienz, litt er zudem an Atemnot und Wassersucht. Er war durchdrungen von Todesahnungen: „Ich mag die Neunte gar nicht anfangen, ich traue mich nicht, denn auch Beethoven machte mit der Neunten den Abschluss seines Lebens“, erklärte Bruckner einmal seine Scheu, die Komposition einer neunten Sinfonie in Angriff zu nehmen.

Den elegischen Tubensatz im Adagio wollte er bezeichnenderweise als „Abschied von Leben“ aufgefasst wissen. Ein Miserere-Ruf aus dem Gloria der d-Moll-Messe ist das Hauptthema seines Adagio. Zu seinem Arzt Dr. Heller sagte er, er hoffe, dass „der liebe Gott“ ihm so viel Zeit schenken werde, um sein letztes Werk vollenden zu können. Doch das Finale ist lediglich in ausgearbeiteten Skizzen erhalten. Dem Schwerkranken war es nicht mehr vergönnt, diesen Satz zu vollenden. Jedoch konnte er noch die Bitte äußern, als Abschluss der Sinfonie sein „Te Deum“ aufzuführen, das als sein Lieblingswerk galt.

Vollendung im Unvollendeten

Der Wiener Dirigent und Testamentszeuge Ferdinand Löwe leistete dem Vorschlag des Komponisten bei der Uraufführung 1903 zwar Folge und verwendete das „Te Deum“ als Finale, nahm es aber nicht in seine Ausgabe der Sinfonie auf. Seiner Meinung nach bedürfe die neunte Sinfonie keines Finalsatzes – dieser Auffassung folgten auch die meisten Dirigenten, was dazu führte, dass die Neunte, trotz zahlreicher Rekonstruktionsversuche, vorrangig als dreisätziges Werk aufgeführt wird.

Bis zu seinem Tod arbeitete Anton Bruckner zehn Jahre an dem Werk, das wesentlich zur Mystik des Komponisten beigetragen hat. Seine siebte Sinfonie widmete er König Ludwig II. von Bayern, seine Achte Kaiser Franz Joseph I. von Österreich, doch seine neunte Sinfonie wollte er der „Majestät aller Majestäten“ widmen: dem „lieben Gott“.

Die wichtigsten Fakten zu Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 d-Moll WAB 109 „Dem lieben Gott“:

Satzbezeichnungen
1. Satz: Feierlich, Misterioso
2. Satz: Scherzo: Bewegt, Lebhaft – Trio: Schnell
3. Satz: Adagio: Langsam, Feierlich

Orchesterbesetzung
Drei Flöten, drei Oboen, drei Klarinetten in B, drei Fagotte, acht Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Kontrabasstuba, Pauken, Streicher

Spieldauer
ca. 61 Minuten

Die Uraufführung der neunten Sinfonie fand am 11. Februar 1903 in Wien durch das Wiener Concertvereinsorchester – später Wiener Symphoniker – mit instrumentalen Änderungen unter der Leitung von Ferdinand Löwe sowie am 2. April 1932 in München unter der Leitung von Siegmund von Hausegger in der Originalfassung statt.

Referenzeinspielung

Günter Wand-Edition

Bruckner: Sinfonien Nr. 3, 7-9

NDR Sinfonieorchester, Günter Wand (Leitung)
Profil (7 CDs)

Von 1982 bis 1991 war Günter Wand Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters, danach Ehrendirigent bis zu seinem Tod 2002. In dieser Zeit entstanden die Tonaufnahmen zu dieser Box, die durch ihre exemplarischen Interpretationen bald zu einer neuen Aufmerksamkeit für die Qualität des Orchesters beigetragen haben. Günter Wand war einer der außergewöhnlichsten Interpreten, dessen Aufführungen wie auch Aufnahmen von einem hohen Maß an Eigenständigkeit sowie Sorgfalt bis ins kleinste Detail gekennzeichnet sind. Der Dirigent beschäftigte sich stets umfassend mit den Werken und deren Komponisten, was zu einer unnachahmlichen Durchdringung des spirituellen Geistes der Musik führte.

Donnerstag, 16.05.2024 20:00 Uhr Philharmonie Berlin

Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll

Utopia, Teodor Currentzis (Leitung)

Samstag, 18.05.2024 20:00 Uhr Elbphilharmonie Hamburg

Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll

Internationales Musikfest Hamburg
Freitag, 12.07.2024 19:30 Uhr Dom St. Stephan Passau

Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll

Europäische Wochen Passau
Donnerstag, 08.08.2024 20:00 Uhr Kloster Eberbach Eltville (Rhein)

Bruckner: Sinfonie Nr. 9 d-Moll

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(Entstehungszeit 1891-94)


„Ich habe auf Erden meine Schuldigkeit getan; ich tat, was ich konnte, und nur eines möchte ich mir wünschen: Wäre mir doch vergönnt, meine neunte Sinfonie zu vollenden! Der Tod wird mir hoffentlich die Feder nicht früher aus der Hand nehmen!“


Der Anfang des ersten Satzes atmet die Ruhe dessen, der seine Schuldigkeit getan hat: Ein langes, tiefes „D“ der Streicher in fast bewegungslosem Tremolo, ein langes, tiefes „D“ der Holzbläser, mit fester Betonung angesetzt – wie ein Schlussstrich, dann ein zweimaliges leises, tiefes Signal vom (einstimmigen) Chor der acht Hörner – wie eine Signatur hinter dem Schlussstrich. Das erste Signal berührt die Mollterz – das Intervall des Lebens und Leidens, das zweite die Quint – das Intervall der Ewigkeit und Herrlichkeit. Dann hallt das Echo der Signale wie in einem Gewölbe nach – „ich tat, was ich konnte“. Das dritte, fernste Echo berührt die Sekund – das Intervall der Sehnsuchtwäre mir doch vergönnt …, da steigt über dem aufflammenden Sekundakkord das dritte Hörnersignal empor, springt in die Oktav und weiter in die Sext – die Intervalle der Einheit und Erfüllung, und ein strahlender Ces-Dur-Akkord erhellt den Raum – ist es die Kraft des Hoffens auf Vollendung, oder ist es der Tod, der nach der Feder greift?


„Ich wünsche, dass meine sterblichen Überreste in einem Metallsarge beigesetzt werden, welcher in der Gruft des Chorherrenstifts St. Florian unter der großen Orgel frei hingestellt werden soll …“


Der Anfang des Scherzos klingt wie eine ferne Orgel in der Höhe. Metallisch und knöchern tanzen die Pizzicati darunter auf und ab: ein Scherzo in der Gruft, die Dissonanzen erinnern an Bruckners ausgestandene Lebensqualen. Das Trio huscht schnell und traumartig dahin – huschte da eben ein Lächeln über Bruckners Gesicht? Etwa über die Qualen der Violinisten mit dem Trio?


Der Anfang des Adagios klingt so angespannt, wie die Hände der Violinisten beim Spielen des Nonenintervalls auf der G-Saite aussehen! Die Harmonien entfalten gewaltige Schubkraft – Bruckner tat, was er konnte! Dazu kontrastiert ein berührend zarter Zwiegesang von Oboe und Horn – Bruckner konnte, was er tat!


Nach Beendigung des Adagios vertraute Bruckner den Torso der Neunten dem Dirigenten Karl Muck an, mit der Bitte, ihn zu hüten, „damit nix g’schiacht d’ran!“


Die Neunte ist Fragment geblieben – ein vollendetes Fragment: zwei feierlich ruhige Sätze umrahmen ein totentanzähnliches Scherzo, das seinerseits ein traumartig dahinhuschendes Trio umfasst – dieses ungreifbarste aller Bruckner’schen Wesen wird zum lächelnden Mittelpunkt dieses tiefernsten Werkes.


Auf der Höhe des langen Weges in sich selbst, den der Gottsucher Bruckner durch sein Werk zurücklegte, zeigt er uns am Ende seines letzten Adagios das Tal des Friedens: Themen der Siebten und Achten ruhen hier bereits in ewiger Harmonie. Nimmt man die großen Finale der Fünften und Achten als Maß, so kann man ahnen, welch riesiger Satz der Neunten ungeschrieben blieb. Er wäre das unerhörteste Finale der Musik geworden; vielleicht ist es gut, dass er unerhört bleiben wird …


(Mathias Husmann)