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Opern-Kritik: Semperoper Dresden – Les Troyens

Belle Époque und Folklore-Brigaden

(Dresden, 3.10.2017) Militärische und sexuelle Übergriffe aus Troja: Lydia Steier kreiert starke Bilder der Verrohung

vonRoland H. Dippel,

Die Chöre haben die Hauptrolle(n) in Hector Berlioz‘ großer Oper „Les Troyens“, der man immer wieder die Rolle eines ästhetischen Gegenentwurfs zum Musikdrama Richard Wagners zuschreibt. Neben dessen „Ring“ hat sich die fast vierstündige Partitur in den letzten zwanzig Jahren so etwas wie die Position eines Leistungsnachweises für das intellektuelle, künstlerische und personelle Potenzial großer Bühnen erobert. Die beiden Heroinen Cassandre und Didon, dazu der gebrochene Antiheld Énée garantieren „human interest“. Die Massenszenen zum „Untergang Trojas“ (Akte 1 und 2) und „Die Trojaner in Karthago“ (Akte 3 bis 5), die Berlioz zu seinen Lebzeiten nie vollständig auf der Bühne erleben konnte, sind an Spannung jedem Antikenfilm aus Hollywood ebenbürtig. Doch mit Ausnahme des brillanten Orchesterstücks „Königliche Jagd“ hat das Opus keine Paradenummern. Dafür besticht es durch einen großen epischen, in der Geschichte der europäischen Oper einmaligen Gestus.

„Mondäne Weltausstellung“ contra „folkloristisch-humaner Agrarstaat“

Lydia Steier beginnt dort, wo Inszenierungen von Offenbachs „Schöner Helena“ enden müssen. Gedankenleer tänzelt das endlich wieder vergnügungslustige Volk der Trojaner nach zehn Jahren Krieg ins Verderben. König Priam ist ein pomadiger Operetten-Grandeur, und die portalhohe Skizze des „Königlich-sächsischen Hoftheaters“ signalisiert Weltläufigkeit wie auf den Champs-Elysées. In dieser Feierfreude stören die schmerzzerrissene Andromaque und die als tumbe Kampfmaschinen paradierenden Militärs mit ihrem Anführer Énée und seinem zur Karikatur überzogenen Früchtchen Ascagne (Emily Dorn), das beim Abknallen von Soldaten und nordafrikanischen Angreifern noch größere Lust empfindet als der Papa.

Szenenbild aus "Les Troyens"
Les Troyens/Semperoper Dresden © Forster

Diese trojanischen Soldaten scheren sich nach ihrer Flucht nicht, den Spieß von der Rolle der Besiegten umzukehren in den von gewalttätigen Schmarotzern bei ihren arglosen Gastgebern in Karthago. Die trojanischen Scharen werden dort zu ebenso krassen Fieslingen wie die Griechen bei der Einnahme Trojas. Höhepunkt des Treibens ist, wenn zwei Soldaten eine entblößte junge Frau vergewaltigen, bevor die trojanische Meute dem göttlichen Ruf nach Italien folgt. Im von ihnen marodierten Staatsgefüge Karthago wächst mit dem Selbstmord der Königin Didon explosiv der tödliche Hass gegen das künftige Rom…

Heftige Buhs bei der Premiere

Lydia Steier schafft in dieser Konfrontation der im Krieg abgestumpften Décadents aus Troja und der Tyrischen Folklorerepublik Karthago immer wieder starke Bilder von menschlicher Verrohung und Verirrung. Dabei riskiert sie Sturz in Plumpheit und grobe Banalität. Diese Kontraste will man am Premierenabend nicht, es gibt heftige Buhs. Anzeichen häufen sich, dass die mehrfach für den Theaterpreis „Der Faust“ nominierte Regisseurin den Ideen ihres Bühnenbildners Stefan Heyne und den wunderschönen Kostümkreationen Gianluca Falaschis allzu sehr nachgibt.

In Karthago wirkt der Hofdichter Iopas (Joel Prieto) unerhört sympathisch durch seine Stimme und erst recht sein Herrenfahrrad in schlichtem Schwarz. Minister Narbal (Evan Hughes) besticht durch vokale Argumente und seine korrekt aufgebügelte Erscheinung. Möglicherweise hat Lydia Steier kein allzu profundes Interesse an der Psyche von Männern in Führungspositionen, die allmähliche Korruption von Didos stark aufgewerteter Schwester Anna gelingt ihr als Kabinettstückchen. Agnieszka Rehlis spielt Annas Geldgier und Freude am Abschlachten von Feinden mit listiger Komödiantik aus.

Satte, vollmundige, aktive Chöre

Es ist bezeichnend für den Abend, dass solche Details mehr in der Erinnerung haften als zentrale Szenen. Etwa, wenn die an ihrem Weitblick verzweifelnde Cassandre die trojanischen Frauen mit mörderischer Brutalität zum Massenselbstmord zwingt. Da ist Jennifer Holloway, die sich in der Mezzodramatik der Seherin stimmlich perfekt und dramatisch weitaus bewegender auslebt als vergangene Spielzeit in „Salome“, das Ereignis des Abends. Wesentlich schwerer hat es da Christa Mayer als First Lady der Ökorepublik Karthago. Weniger als Sängerin, da übertrumpft sie die andere Protagonistin in der langen Verzweiflungs- und Sterbeszene sogar. Sie zeigt sich im souveränen Vollbesitz aller von Berlioz geforderten Ausdrucksmittel und reißt deshalb zu Recht die Beifallsstürme an sich.

Szenenbild aus "Les Troyens"
Les Troyens/Semperoper Dresden © Forster

Aber zu dieser Figur mit der enormen Fallhöhe von der geliebten Herrscherin zur innenpolitischen Versagerin fällt Lydia Steier wenig ein. Auch nicht zu Énée, einer formidablen Führer-Kampfdrohne, der erst in der großen Arie kurz vor Schluss ein kleines emotionales Licht aufgeht. Da kann der sich ins schwere Wagner-Fach einarbeitende Bryan Register auch deshalb nicht ganz überzeugen, weil sein Part für die Regisseurin vollkommen unterinteressant ist und sie ihn sich selbst überlässt. Den Sympathieträger Chorèbe, markant und schön gesungen von Christoph Pohl, hat man in den Blut- und Waffenmassen leider schnell vergessen. Poussiert und geflirtet wird allerdings von den meisten Chorherren weitaus besser.

120 Stars – der Chor

Für die eingestrichenen Ballettszenen hat, neben einigen marginalen Akrobaten, der Chor vollauf zu tun. 120 Frauen, Männer, Kinder spielen und singen mit einer energischen Präsenz, die diese Premiere trotz mancher Flachheit zum großartigen Erlebnis machen.

Szenenbild aus "Les Troyens"
Les Troyens/Semperoper Dresden © Forster

Jörn Hinnerk Andresen ermöglichte seinen Kollektiven Bravour und Feinschliff, genaue Diktion und erstaunliche Energie. Die Chöre, auch weil sie in der Staatskapelle einen mustergültigen souveränen Mitspieler haben, erweisen sich als bessere Botschafter dieses hochkomplizierten Opernmonuments als das Produktionsteam. Der mit der Partitur eigentlich erfahrene John Fiore scheut sich am Pult etwas vor dramatischer Profilierung.

So kommt es, dass die Bläser und alle anderen Gruppen eine Spur zu schön und auch viel zu elegant klingen. Das macht bewundern, hinterlässt jedoch den Eindruck, als ob diese musikalische Gestaltung den überaus brutalen Zugriff auf der Bühne etwas abfedern soll. Man hat den Eindruck, als taugte der „Sylphidenwalzer“ auch als musikalische Untermalung von „Tagesthemen“ mit Katastrophenmeldung.

Semperoper Dresden
Berlioz: Les Troyens

John Fiore (Leitung), Lydia Steier (Regie), Stefan Heyne (Bühne), Gianluca Falaschi (Kostüme), Jörn Hinnerk Andresen (Chor), Claudia Sebastian-Bertsch (Kinderchor), Bryan Register (Ènèe), Jennifer Holloway (Cassandre), Christa Mayer (Didon), Christoph Pohl (Chorèbe), Evan Hughes (Narbal), Joel Prieto (Iopas), Emily Dorn (Ascagne), Ashley Holland (Panthée), Agnieszka Rehlis (Anna), Sächsische Staatskapelle Dresden, Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Sinfoniechor Dresden, Extrachor der Sächsischen Staatsoper Dresden, Kinderchor der Sächsischen Staatsoper Dresden

Termine: 3.10. (Premiere), 6., 9., 21. & 27.10., 3.11.2017

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