Reportage Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra

„Der Sound ist anders“

Der Österreicher Sascha Goetzel leitet das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra und will die europäische Klassik in der Türkei populär machen

© Özge Balkan

Vielfältige Stadt: Der Stadtteil Beyoğlu, in dem sich auch der Taksim-Platz befindet

Es war einmal ein Bauernsohn im tiefsten Anatolien. Im Fernsehen sah er das erste Mal ein Orchester und war beeindruckt vom Musiker mit der mächtigen Tuba. Der Junge teilte seinen verblüfften Eltern mit, dass er Tubist würde, einer der besten der Welt. Er erhielt ein einfaches Blasgerät, brachte sich alles selber bei, und als er ein junger Mann war, brach er gegen den Willen der Eltern aus der Provinz aus. Zunächst nach Ankara, wo er eine Musikschule besuchte, dann  nach Izmir und schließlich nach Istanbul, wo er zum Borusan International Philharmonic Orchestra (BIPO) gelangte. Inzwischen gilt er als bester Tubist der Türkei. „Er könnte einer der Großen der Welt am tiefsten aller Blechblasinstrumente werden“, sagt Sascha Goetzel.

Kostenloser Unterricht für Kinder aus armen Familien

 

Der Chefdirigent des BIPO kennt solche Geschichten. Er hat sich, seit 2008 in Istanbul, von Anfang an um die Ausbildung und Förderung junger Musiker gekümmert. Mit Hilfe einer Stiftung hat Goetzel ein spezielles Programm für Kinder aus armen Familien entwickelt, es werden Instrumente vermietet und es gibt kostenlosen Unterricht. Zudem hat er freie Tickets für Studenten durchgesetzt, in der Sultan-ahmet-Konzerthalle gibt es für sie zwei Platzreihen. „Nachdem der Reformer Atatürk die klassische Musik in die Türkei geholt hatte, profitierte davon vor allem die Elite“, sagt Goetzel. „Das ist nicht mehr so, die Entwicklung erfasst vor allem junge Leute. Zwar sind wir in der Musik Europa noch 20 Jahre hinterher, Mahler zum Beispiel muss erst noch bekannt gemacht werden. Aber es geht voran.“

 

Das BIPO wurde 1999 gegründet von den Eigentümern des in Istanbul sesshaften Industrie- und Dienstleistungsunternehmen Borusan, im Februar feiert man das 15-jährige Jubiläum. Goetzel war unsicher, nachdem er das Rennen um die Leitung des internationalsten aller türkischen Orchester gewonnen hatte. Sollte er das Experiment wagen? Er fragte Daniel Barenboim um Rat. Sofort, antwortete der mit Nachdruck. Es sei eine Riesenchance für die türkischen Musiker, würde ein Kenner europäischer Klassik in Kontinuität mit ihnen arbeiten. Das hat sich Sascha Goetzel zur Aufgabe gemacht. „Die Türken sind sehr offen. So können wir die europäische Musiktradition nach Istanbul bringen und diese Stadt zur Musikstadt machen.“ Sein Vertrag läuft bis 2017. „Ich bin gern in Istanbul – eine aufregende Stadt.“

 

Das war am Anfang nicht leicht. Der erste Österreicher mit dem Namen Sascha, von den Eltern nach einem berühmten russischen Geiger benannt, hatte in seiner Heimat Erfolg, dirigierte das Wiener Kammerorchester und das Tonkünstler Orchester Niederösterreich, war in Wien an der Volksoper und der Staatsoper tätig und international unterwegs. Borusan band ihn mit einem langjährigen Vertrag an das Orchester. Goetzel hat Frau und zwei Kinder in Wien, oft sieht er sie nicht wegen seiner Verpflichtungen. „Ich bin nicht mit einer Frau verheiratet, sondern mit einem Engel“, sagt er. „Wir waren schon vor der Karriere zusammen, sie kennt die Belastungen und meine bedingungslose Liebe zur Musik. Anders wäre es nicht gegangen.“

 

In der Türkei traf er einen Musikstil, der sich wesentlich von dem in Mitteleuropa unterscheidet. „Hier gibt es viel warmes Blut“, so Goetzel. „Der orientalische Tanz ist wichtig, in den Adern der Musiker hüpft noch der Derwisch. Selbst bei ganz jungen Leuten, das merkt man an der Popmusik. Die Klassik Europas verbindet sich mit dem Stil hier, aber das ist ein langwieriger Prozess. Das Orchester gelangt allmählich zur eigenen Sprache. Der Sound ist anders als der westlicher Orchester, doch wir setzen die Bausteine westlicher und östlicher Musik zusammen an der Peripherie Asiens.“

 

Istanbul – eine pulsierende westlich orientierte Stadt

 

Das Programm ist dementsprechend ausgerichtet. Das BIPO hat einen Pool von 106 festen Musikern, je nach Bedarf werden weitere engagiert. Beim Publikum kommt vor allem das große Repertoire deutsch-österreichischer Musik an. „Beethoven, Mozart, Haydn und Schubert“, zählt Goetzel auf. „Gespielt werden sie im Geist der Kreativität, aber auch um internationale Anerkennung zu finden. Jede Aufführung ist wie ein Mosaik, das sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt.“ Mentalität, Dynamik, Dramatik, dem ein wenig Folklore beigemischt ist. „Hier wird Klassik nicht statisch runtergespielt, sondern in ganz eigener Interpretation“, weiß der Chef im sechsten Jahr seines Dirigats. Das Publikum geht rasant mit und applaudiert mit endlosen Bravorufen.

 

Goetzel sieht die Vereinigung von Abendland und Morgenland in der Musik als organisches Wachstum. „Sportlern pumpen sie Testosteron in die Muskeln, um Spitzenleistungen zu erreichen. Das geht in der Kunst nicht. Türkische Musiker lieben es zu spielen, sie sind mit Instrumenten wie Flöte, Zimbel, Triangel, Geige und Trommel, aufgewachsen. Das muss berücksichtigt werden. Und es eröffnet neue Möglichkeiten etwa der Phrasierung der Geigen, die europäische Orchester gar nicht haben“, erklärt er.

 

Flankiert werden die Bemühungen des künstlerischen Leiters von der Modernisierung der Türkei, die sich am stärksten in ihrer Metropole am Bosporus mit ihren 13 Millionen Einwohnern abbildet. Das explosive Wirtschaftswachstum der letzten Jahre, der am Westen orientierte Lifestyle mit schicken Restaurants und pulsierendem Nachtleben. Die geistige Neugier und Offenheit überall. Istanbul hat sich zur liberalen Stadt entwickelt nach dem Motto: Leben und leben lassen. Es dominiert die „Sosyete“, wie Istanbuler die moderne Gesellschaft nennen. 

 

Die wunderschön an die buchtenreichen Ufer des Bosporus gebettete Stadt erscheint jung, vital und polyglott. Die Politik wird von Istanbulern attackiert, wo sie nationalistische Züge zeigt. 50 Prozent der Bewohner sind noch keine 25 Jahre alt, sie wollen nicht den Staat der Paschas und Imame, auch wenn sie die Tradition ehren. Istanbul ist nicht mehr Konstantinopel, sondern längst im anderen Modus. Weltläufigkeit, Freiheit, ein gutes selbstbestimmtes Leben, raus aus der Armut, das sind die heutigen Werte. Da kommt die europäische Musik gerade recht. „Man sucht hier den Weltanschluss“, sagt Goetzel.

 

Humanitäre Hilfe für Demonstranten

 

Die Zentrale von Borusan residiert nahe zum Taksim-Platz in einem historischen Gebäude. Die Fassade ist topsaniert, innen wurde das Haus komplett entkernt und modern umgebaut zu großen offenen Räumen, viel Glas, Stahl und bunte Möblierung. Im Erdgeschoss gibt es einen Saal mit 120 Plätzen, in dem auch Kammermusik gespielt wird. Nahebei liegt der Gezi-Park, Symbol des Widerstands gegen die starre und korrupte Politikerkaste. Wegen der Unruhen musste das Istanbul Music Festival ausfallen, aber Goetzel wollte bei den Menschen dort sein, obwohl er gewarnt worden war und TV-Kameras auf ihn gerichtet waren. Ein Polizist hatte einer seiner Geigerinnen eine Granate an den Kopf geschleudert, ein anderer Musiker verlor bei einer Verletzung sogar einen Teil seines Gesichts. „Ich sehe mich nicht als politischen Aktivisten, mir geht es um humanitäre Hilfe“, sagt Goetzel. Er sammelte mit anderen Musikern Geld für die medizinische Behandlung der Betroffenen. Er machte Musik für die Protestler, hielt sich aber mit Statements zurück. Im Gezi-Park ist der BIPO-Chef wohl endgültig in Istanbul angekommen. „Wenn ich über 2017 hinaus noch gebraucht werde, dann bleibe ich“, sagt Sascha Goetzel.

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