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Blind gehört Michael Barenboim

„Mit allen falschen Tönen, die dazugehören“

Geiger Michael Barenboim hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonSusanne Bánhidai,

Beim Erraten seiner Kolleginnen und Kollegen ist Michael Barenboim eher zurückhaltend, dafür erkennt er jedes Werk nach wenigen Sekunden. Im Austausch über die Interpretationen offenbart der Geiger seine Liebe zur Komplexität, zur Bratsche und woran er sich bei Aufnahmen selbst erkennt. Auch wer ihm außerhalb seiner musizierenden Familie wichtige Impulse gab, konnte die geheime Playlist zeigen, die wir ihm vor einem Konzert in der Elbphilharmonie vorgespielt haben.

Boulez: Anthèmes für Violine solo

Carolin Widmann
Telos 2020

Das ist „Anthèmes“ von Pierre Boulez. Zu diesem Stück habe ich eine sehr enge Beziehung, weil es für meine Zusammenarbeit mit dieser Künstlerpersönlichkeit steht. Ich bin damals für jemanden eingesprungen und musste es ziemlich schnell lernen – in nur zwei Wochen nach einer Weisheitszahnoperation! Aber ich wollte es mir nicht entgehen lassen, denn ich hatte die Chance, mit Boulez selbst das Werk zu erarbeiten. Das ist der große Vorteil bei zeitgenössischer Musik: Man kann den Komponisten direkt zu seiner Musik befragen. Boulez hatte die Fähigkeit, seine Musikstücke wie die von anderen zu betrachten. Er konnte sich von seinem Tun distanzieren und abstrahieren, wenn es an die Interpretation ging. An die Schmerzen beim Üben denke ich nicht mehr, ich spiele das Stück einfach sehr gerne. Es ist vielleicht das abwechslungsreichste Musikstück, das ich kenne. Die kontrastreichen Abschnitte werden durch Glissandi im Flageolett strukturiert, die wie Kapitel-Titel wirken. Dieses Stück hat sich trotz seines technischen und interpretatorisch hohen Anspruchs im Solo-Repertoire etabliert. Es gibt mehr Aufnahmen, als man denken könnte. Ich bin es aber nicht. – Eine Geigerin? Dann ist es Carolin Widmann, die das sensationell macht. Sie ist eine Meisterin dieses Repertoires.

Schönberg: Violinkonzert – 3. Allegro

Kolja Blacher, Gürzenich-Orchester, Markus Stenz (Ltg)
Oehms Classics 2013

Das ist der dritte Satz aus dem Violinkonzert von Schönberg, ein Marsch. Auch bei diesem Werk hatte ich das Privileg, mit Pierre Boulez zusammenzuarbeiten, daher ist das Violinkonzert sehr prägend für meine Entwicklung. Ich war ungefähr 25 Jahre alt, als ich es unter seiner Leitung spielen durfte. Nicht nur bei diesem Stück hat er mir immer sehr weitergeholfen. Kann ich den ersten Satz daraus mal hören? Das ist eine neuere Aufnahme, der Klangqualität nach zu urteilen bin ich es aber nicht. Das habe ich nach dem fünften Ton erkannt, denn ich mache die Phrasierung anders. Dass es Kolja Blacher ist, hätte ich nicht geahnt. Er macht das aber sehr schön.

Debussy: Violinsonate g-Moll

Michael Barenboim, Daniel Barenboim (Klavier)
Deutsche Grammophon 2018

Das ist eine Live-Aufnahme – mit allen falschen Tönen, die dazugehören. Und ja, das bin ich zusammen mit meinem Vater. Erkannt habe ich das auch an einer Phrasierung, der Klang ist es nicht unbedingt, der mich zu einem Interpreten führt. Hier habe ich sehr von der Erfahrung meines Vaters profitiert, denn es ist sehr schwierig, bei dieser Sonate die richtige Stimmung zu treffen. Sie muss leicht klingen, aber nicht zu flüchtig. Tiefgründig, aber nicht schwer. Selbst, wenn man das Richtige will, ist es eine Herausforderung, es umzusetzen. Bevor man sich in die Welt dieser Sonate hineingefunden hat, ist sie auch schon wieder vorbei …

Ginastera: Violinkonzert op. 30

Hilary Hahn, hr-Sinfonieorchester, Andrés Orozco-Estrada (Ltg)
Deutsche Grammophon 2021

Mit Alberto Ginastera verbindet man ja eher einen leicht tänzerischen, folkloristischen Stil. Im Violinkonzert hört man aber, dass er sich in einer späteren Schaffensphase mit der Zwölftonmusik auseinandergesetzt hat. Geschrieben wurde es für einen klassischen Geigenvirtuosen, nämlich Ruggie­ro Ricci, dementsprechend anspruchsvoll ist die Partitur. Ich versuche, Technik und Musik nicht getrennt zu erarbeiten, sondern denke während des Studiums die Interpretation mit. Man läuft sonst Gefahr, das Werk technisch abzuspulen und das Musikalische getrennt davon oben draufzusetzen. Es gibt auch ganz große Musiker, die das anders machen, aber das ist mein Weg, auch wenn der Lernprozess etwas länger dauert. Ich finde das Stück aber auch richtig großartig. Sich allein wegen der Schwierigkeiten abmühen, wäre nicht mein Fall gewesen. Bei mir ist es schon eine Weile her, dass ich das Stück gespielt habe, und es gibt auch eine Aufnahme. Das bin ich aber nicht! So sauber habe ich das nicht hinbekommen. Hilary Hahn? – Ja, natürlich! Sie spielt immer mit einer beeindruckenden Intonation. Kristallklar! Genau im Zentrum des Tons, daher leuchtet der Klang so!

Shea: The Arctic Suite – Frozen World

Eldbjörg Hemsing, Arctic Philharmonic
Sony 2022

Das kenne ich nicht, Musik aus dieser Richtung höre ich nicht häufig. Ich finde aber, dass dieser Stil auch seinen Platz hat. Das ist New Classic mit Geige, und auch wenn das Stück jetzt vielleicht nicht die größte Komplexität aufweist, hat es trotzdem seinen Reiz für das Publikum. Es kommt auf den Kontext an. Zu meinem bevorzugten Spiel- und Hör-Repertoire steht es aber in krassem Gegensatz.

Vieuxtemps: Capriccio c-Moll op. 55

Atilla Aldemir (Viola)
GWK Records 2018

Tolles Stück, ein Klassiker für die Bratsche. Ich spiele sehr gerne Bratsche, angefangen habe ich damit 2017. Ich mag den Klang und auch ihre Rolle in der Kammermusik. Wenn ich ein Programm für ein Recital zusammenstelle, ist immer auch etwas für die Bratsche dabei. Violine und Viola ergänzen sich klanglich und im Repertoire, die Bratsche gibt so einem Solo-Konzert noch eine andere Dimension. Das ist eine schöne Aufnahme – von einem mir unbekannten Bratscher. Danke, da höre ich mal genauer hinein.

Bartók: Violakonzert – 1. Moderato

Tabea Zimmermann (Viola), BRSO, David Shallon (Ltg)
EMI Classics 1992

Das ist das berühmte Bratschenkonzert von Béla Bartók. Wer spielt, erkenne ich aber auch hier nicht. – Tabea Zimmermann! Sie gehört zu den ganz Großen am Instrument, inspiriert zum Bratschenspieler wurde ich aber in Frankreich. Gérard Caussé war es, der mir die Bratsche buchstäblich an die Hand gegeben hat. Mit ihm habe ich viel Kammermusik gespielt. Als er erfuhr, dass ich Pierrot Lunaire spielen wollte, das man mit Violine und Viola spielen muss, hat er mir den Pariser Bratschenbauer Charles Coquet empfohlen. Bei ihm bin ich sehr schnell fündig geworden.

J. S. Bach: Chaconne aus Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004

Itzhak Perlman
Warner 1987

Man hört, dass es sich um jemanden handelt, der die historische Aufführungspraxis nicht pflegt. Entweder ist dieses Phänomen am Interpreten total vorbeigegangen, oder derjenige hat sich einfach dagegen entschieden. Ich selbst spiele auch nicht historisch informiert, reagiere aber darauf. Hier ist das nicht so. Also doch vielleicht eine ältere Aufnahme? Ich finde das trotzdem wahnsinnig gut! Die Interpretation ist richtig aufgebaut, das Spiel ist intensiv und der Gestus ist da! Was ich in den Diskussionen um die historische Aufführungspraxis vermisse, ist die Frage nach der Musik. Manche Menschen hören ein starkes Vibrato und einen starken Klangimpuls und werten die Interpretation eines Bach-Werkes deswegen ab. Aber man muss genauer hinhören. Es ist doch so toll musiziert! Und so mancher Aufnahme auf alten Instrumenten, ohne Vibrato und so weiter fehlt die Idee. Stil kann etwas sehr Oberflächliches sein. – Itzhak Perlman spielt es so fantastisch? Es ist für mich keine Überraschung, dass es jemand von den ganz großen alten Geigern ist.

Solarrio: No Substitute

Das kann ich gar nicht einordnen. – Huch, das ist ein Song meines Bruders? Au weia … Mein Bruder David ist Produzent und Songwriter. Wenn man bedenkt, welche tausend Wege man beruflich beschreiten kann, machen wir Brüder etwas sehr Ähnliches. Er ist ja kein Ingenieur oder Arzt. Unsere Eltern haben uns die Liebe zur Musik mitgegeben. Dass wir nun beide Musiker sind, hat aber auch mit einer Portion Glück zu tun. Oder auch Zufall. Bei aller Hingabe und Engagement für meine beiden Instrumente weiß ich meinen bisherigen Lebensweg, der so voll toller Musikerinnen und Musiker war und ist, sehr zu schätzen.

Album-Tipp:

Album Cover für Britten: Sea Interludes & Elgar: Violinkonzert

Britten: Sea Interludes & Elgar: Violinkonzert

Michael Barenboim (Violine), Philharmonia Orchestra, Alessandro Crudele (Leitung) Linn

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