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Interview Kristjan Järvi

„Wir leben in einer musikalisch aufregenden Zeit“

Der Dirigent Kristjan Järvi über Onkel Dimitri, John Travolta und den Klang des Nordens

vonUdo Badelt,

Kristjan Järvi reißt gerne Fenster auf, zum Beispiel als Gründer des Absolute Ensembles in New York, das die Klassik mit Jazz, Rock und Hip-Hop kombiniert, oder der Baltic Youth Philharmonic, mit der er im Juli zum Young Euro Classic nach Berlin kommt. Mit Charisma, strahlendem Lächeln und innovativen Programmen erschließt der 39-Jährige neue Publikumsschichten für anspruchsvolle Musik. Die war ihm in die Wiege gelegt: Vater Neeme Järvi ist ein weltweit gefragter Dirigent, ebenso sein älterer Bruder Paavo Järvi. Beim Skype-Interview ist Kristjan Järvi gelöst und entspannt, obwohl er nur diesen einen Tag mit seiner Frau und seinen drei Kindern in seiner Wiener Wohnung hat, bevor er weiter nach Brasilien fliegen muss.

Herr Järvi, Sie sind in Estland geboren und in den USA aufgewachsen. Fühlen Sie sich als Este oder als Amerikaner?

Ich bin und bleibe Este. Aber meine Bindungen an Amerika sind sehr eng. Das Land hat mir viel gegeben. Die USA sind durchdrungen von populärer Kultur, von Gospel, Jazz oder der Folklore der Ureinwohner. Ich empfinde das nicht als Kontaminierung der europäischen Musikkultur, sondern als Bereicherung. Amerika geht an alles mit einer Haltung des Aneignens heran. Man weiß dort, dass man Fehler machen muss, um Fortschritte zu erzielen, und hat keine Angst davor. Die Denkungsart ist offen und sehr inspirierend.

Ist die Arbeit mit amerikanischen Musikern anders als mit europäischen?

Ja, sehr. Aber das ist abhängig vom Genre. In der Klassik arbeite ich lieber mit europäischen Musikern, in anderen Genres mit amerikanischen. Die amerikanischen Musiker kennen keine technischen Grenzen. Dafür haben Europäer ein Verständnis von Musik, das die Noten überschreitet. Bei ihnen ist die Musik etwas weniger perfekt, aber sie spielen mit Geist und Seele, die Musik hat eine Botschaft. Es wäre schön, das beste beider Welten kombinieren zu können.

Wie viel Estland steckt noch in Ihnen?

Sehr viel. Das drückt sich auch in meiner sehr engen Arbeitsbeziehung zu Arvo Pärt aus. Wir stammen aus der gleichen Stadt, Tallinn. Vor meiner Geburt lebten meine Eltern im gleichen Haus wie er. Später sind wir emigriert, er nach Berlin, wir nach Amerika. Ich habe 2010 mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und dem RIAS-Kammerchor eine CD aufgenommen, die zu seinem 75. Geburtstag erschienen ist. Sie heißt „Cantique“ und reflektiert die Beziehung zwischen ihm und meiner Familie. Mein Vater hat sehr viele Uraufführungen von Pärt dirigiert. Die CD enthält unter anderem seine dritte Sinfonie, die er meinem Vater gewidmet hat, und eine Orchesterversion des Stabat Mater, die ich ihn als Chef des Tonkünstler-Orchesters zu schreiben bat.

Arvo Pärt hat ihr ganzes Leben begleitet.

Als Kinder verstanden wir gar nicht, welch großartige Künstler im Freundeskreis meines Vaters verkehrten. Schostakowitsch, Rostropowitsch, Oistrach, das waren nicht mehr als nette Onkel für uns.

Welche Rolle spielen andere nordische Komponisten wie Grieg, Sibelius oder Tubin in Ihrem Repertoire?

Ich war letztens beim Radiosymphonieorchester in Kopenhagen zu Gast und habe wieder einmal gespürt: Der Norden ist mein Zuhause. Die Menschen, die Mentalität – das ist mein Territorium. Die Luft ist anders, weil die Länder vom Meer umgeben sind. Es riecht nach Zuhause. Und so ist es auch mit der Musik. Mein Leben wäre nicht erfüllt, wenn ich nicht Sibelius, Tubin oder Nielsen dirigieren könnte.

Sie dirigieren sehr viel zeitgenössische Musik. Schauen wir in der Musik heute zu viel zurück und zu wenig nach vorn?

Das Publikum will Musik, die etwas bedeutet, die originell und verständlich ist. Wenn Komponisten zu viel darüber nachdenken, können sie gar nichts schreiben. Sie sollten schreiben, was sie fühlen. Dann werden sie auch immer mutiger. Sie vertrauen ihrem Drang sich selbst auszudrücken und sorgen sich weniger, ob die Leute sagen werden: Das ist zu tonal, zu altmodisch. Ich spüre, dass die Tonalität zurückkehrt, und daran ist nichts falsches. Wir leben in einer musikalisch aufregenden Zeit. Früher gab es nur ein Spektrum von vielleicht fünf Farben. Jetzt haben wir tausend Farben mit verschiedene Schattierungen und Kombination, mit Einflüssen aus Afrika, Asien, Lateinamerika.

Mit „früher“ meinen Sie die 60er und 70er Jahre?

Ja. Aber ich will nicht generalisieren. Das 20. Jahrhundert hat großartige Musik hervorgebracht: Bartók, Strawinsky, Messiaen. Aber eben auch vieles, das nicht so großartig war. Jetzt gibt es Komponisten, die zurückblicken und zugleich vorwärts, wie Esa-Pekka Salonen, Wojciech Kilar, Moritz Eggert. Das ist fortschrittliche Musik, die die serielle Landschaft komplett verlassen hat. Um vorwärts zu gehen, muss man erst ein Stück zurückstoßen, wie ein Auto, das festgefahren ist.

Sprechen wir über Sie als Dirigent. Sie haben das Image eines John Travolta der Klassik. Stört Sie das?

Ich kann nichts dafür, dass er aussieht wie ich. (lacht) Nein, es ist schön, dass ich anscheinend aussehe wie jemand, der ein unglaublich guter Schauspieler und als Künstler sehr respektiert ist. Der Vergleich stört mich nicht, aber er hilft auch nicht.

Wie wichtig ist attraktives Aussehen in der klassischen Musik – Beispiel Anna Netrebko? Geht die Klassik den Weg des Pop?

Nein, Qualität ist weiterhin ausschlaggebend. Wenn Anna Netrebko eine schlechte Sängerin wäre, würde sich trotz ihres Aussehens niemand für sie interessieren. Aber sie ist eine sehr gute Sängerin. Der Inhalt ist wichtig. Alles andere gehört zum Paket dazu, aber ohne diesen elementaren Teil ist alles Übrige wertlos.

Was ist Ihr Credo als Dirigent?

Ich glaube, dass man Musik durch seinen Körper übertragen muss. Der Körper ist das Instrument, das Orchester ist der Resonanzkörper für die Botschaft. Im besten Fall ist die Musik das Abbild einer gelungenen Kommunikation zwischen Dirigent und Musikern.

Sie setzen beim Dirigieren Ihren Körper umfassend ein. Machen Sie das bewusst?

Vielleicht. Alle Teile meines Körpers reflektieren die Musik: Hände, Nase, Füße, Augen. Das Orchester und ich müssen Schwingungen herstellen, die etwas ausdrücken, was nur in diesem Augenblick gesagt werden kann. Deshalb kann sich das gleiche Stück immer wieder anders anhören. Es ist nicht so, dass man einfach nur die Noten spielen muss und schon ist die Musik da – und der Dirigent muss nur alles zusammenhalten. Es geht um das Vermitteln der Botschaft, die in den Noten steckt. Die muss durch den Dirigenten hindurch zu den Musikern gelangen. Was ist diese Botschaft? Das kann eine Geschichte sein, eine Wahrnehmung, eine Stimmung, eine musikalische Linie, ein Tanz, was auch immer. Ein Dirigent ist wie ein Schauspieler. Er muss sich jedem Stück anpassen. Sein Name ist jedes Mal derselbe, aber er stellt jedes Mal jemand anderen dar.

Wie oft haben sie das Gefühl, dass Sie diese Botschaft an Ihre Musiker weitergeben konnten?

Als ich anfing, überhaupt nicht. Jetzt, nach zehn Jahren, zu 90 Prozent. Es wird immer einfacher, schneller und überzeugender. Das hat mit Erfahrung zu tun. Aber auch damit, dass mir inzwischen meine Botschaften klar sind, ich weiß, was ich sagen will. Das ist meist das größte Problem: Die Dirigenten wissen nicht, was sie wollen. Oder sie wissen es, können es aber nicht ausdrücken. Zu wissen, was man sagen will, und die Mittel zu haben, es auszudrücken: Darauf kommt es an.

Wie intensiv haben Sie die Tradition studiert? Was bedeutet ihnen etwa der Stil, für den Karajan steht, im Vergleich zu Harnoncourt?

Karajan habe ich leider nie getroffen, Harnoncourt schon. Beide sind enorm wichtig. Um wirklich reich zu werden und fähig zu sein, seinen eigenen Weg zu wählen, muss man sich beidem öffnen. Wenn ich mir Aufzeichnungen der Großen ansehe, von Knappertsbusch bis Celibidache, dann finde ich immer die gleichen charakteristischen Merkmale: Eine klare Vision und einen Glauben an die Musik und an sich, jenseits aller Zweifel. Außerdem sind diese Dirigenten lange bei einem Orchester geblieben und haben dessen Profil, dessen Klang geschaffen, fast wie die Bandleader im Jazz, wie Count Basie.

Sie leiten derzeit nur ein Orchester: die Baltic Youth Philharmonic, die sie vor drei Jahren gegründet haben.

Ich will etwas tun für die Ausbildung junger Musiker aus den zehn Ländern, die an die Ostsee grenzen. Es geht darum, eine Identität der Region als Mittelmeer des Nordens herzustellen. In Mittel-, Ost- und Nordeuropa gibt es einen wunderbaren Reichtum an Kulturen und Stilen. Wir wollen Musik ohne Grenzen etablieren, wobei ich nicht nur politische und geographische, sondern auch kulturelle Grenzen und Genregrenzen meine.

Bringen jüngere Musiker automatisch mehr Leidenschaft mit als erfahrene Musiker?

Nein. Alter ist ein körperlicher, kein geistiger Zustand. Es gibt junge Musiker, die wirken, als wären sie hundert Jahre alt. Andere sind 80, aber sie könnten 19 sein, so frisch sind sie, so voller Leben, mit einer unglaublichen Energie, Optimismus und einer echten Liebe zu ihrem Beruf.

Trotzdem: Ist Routine das Schlimmste, was einem Orchester passieren kann?

Wir sind immer Sklaven der Routine. Ich versuche hart gegenzusteuern. Jeder Tag ist ein neuer Tag. Jedes Stück sollte klingen, als sei es gerade geschrieben. Sogar bei der ersten Sinfonie von Brahms muss der Hörer denken, die Premiere sei erst gestern gewesen. Der Spruch „Wir wissen schon, wie es geht“ sollte niemals eine Entschuldigung sein. Man muss immer nach Neuem schauen, versuchen, etwas Frisches, Interessantes zu finden. Die Musik steckt nicht in den Noten, sondern zwischen den Linien. Das ist wie mit der Bibel. Wer die Bibel wörtlich nimmt, dem entgeht ihr ganzer Kern.

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