Blind gehört Kristjan Järvi
„Ich fühle mich körperlich unwohl beim Hören“
Kristjan Järvi hört und kommentiert Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.
© Peter Adamik

Kristjan Järvi
Das Usedomer Musikfestival steht unmittelbar bevor. Kristjan Järvi dirigiert dort regelmäßig das Baltic Sea Philharmonic. Der Pianist, Dirigent und Komponist zeichnet sich durch seine Liebe zur stilistischen Vielfalt aus. Er hatte sehr viel Spaß beim Interview und offenbarte neben Familiärem auch seine Liebe zu Beethoven.
Das ist sehr schnell, das muss ich sein. – Nein? Ist das vielleicht mein Vater? Valery Gergiev? Claudio Abbado? Ich mag es so schnell. – Oh, Esa-Pekka Salonen! Ich hätte nicht gedacht, dass er es so schnell spielt. Ich kenne die Aufnahme, aber ich habe sie das letzte Mal vor zwanzig Jahren gehört. Er war auf eine Art mein Lehrer, ein Mensch, den ich als Vorbild geschätzt habe. Auf eine ganz andere Art als ich selbst ist er sehr experimentell. Er ist extrem fokussiert und spezialisiert auf die klassische Musik. Das kann ich von mir nicht behaupten.
Von diesem Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch hat mein Vater eine tolle Aufnahme mit Lydia Mordkovitch gemacht, die allerdings wilder ist. Wenn es nicht mein Vater ist, habe ich keine Ahnung, wer es sein könnte. Klingt aber sehr schön.
Das ist „Darf ich…“ von Arvo Pärt. Meine Aufnahme, oder? – Nein? Aber es ist sehr gut. Spielt Gidon Kremer? Ich mag es sehr. – Ah, wenn Viktoria Mullova Geige spielt, dann ist es Paavo, mein Bruder. Perfekte Aufnahme, daran habe ich nichts auszusetzen.
Das Stück kenne ich nicht und ich mag es auch nicht. Ich fühle mich körperlich unwohl beim Hören. Ich glaube nicht, dass es schlechte Musik gibt. Aber gute Musik steht immer in einem Kontext, der mir hier gerade fehlt. Wenn du mich einfach nur in den Pool schmeißt, bin ich geschockt und hasse es. Auch wenn ich es normalerweise liebe, im Pool zu schwimmen. Wenn ich diese Musik nur so ausschnittweise höre ohne Zusammenhang, kann ich damit nichts anfangen. Und das wäre mit meiner eigenen Musik vielleicht genauso. – Oh, die Musik ist von Péter Eötvös! Er ist einer meiner Lieblingsdirigenten. Ich mag, wie er Igor Strawinsky und Béla Bartók interpretiert. Vor Péter Eötvös habe ich großen Respekt und ich mag ihn sehr, denn wir sind Gleichgesinnte. Unsere Geschmäcker sind nicht dieselben, aber das macht nichts. Peter, entschuldige! Ich hasse deine Musik nicht! Aber ich wurde ja eben in den Pool geworfen und nach einer Reaktion gefragt. Also, wenn diese Musik mich in Panik versetzen sollte, dann warst du erfolgreich!
Das ist gute Cartoon-Musik. Das ist so gut, das kann man gar nicht schlecht spielen. Du kannst es auf hundert Millionen von Arten spielen, aber es klingt immer gut, weil es genial komponiert ist. Das ist der Joker, den man immer in der Tasche hat. Diese Interpretation finde ich auch ganz schön. Ich finde es recht rasch. Wenn ich das dirigiere, beginne ich viel langsamer, um die Steigerung mehr auszukosten.
Na, das war ja nicht schwer! Das bin ich.
Das ist noch leichter, das ist mein Vater. Man kann das sofort hören. Das Tempo ist ungefähr gleich, aber die Betonung ist anders. Ich setze mehr rhythmische Akzente, er geht in einem direkteren Fluss durch die Partitur. Es gibt ja leider nicht so viele Aufnahmen von diesem Stück. Es sollte öfter gespielt werden, weil es eins von Tschaikowskys ersten Meisterwerken ist. Es ist eben kein Ballett, sondern eine kleine Oper. Keiner weiß so recht, wie man es in einem Konzert unterbringen kann. Man braucht Solisten, Chor und ein großes Orchester, und dann dauert es länger als eine Stunde, ungefähr anderthalb Stunden. Wie macht man das dann: mit oder ohne Pause? Im Konzertleben gibt es viele feststehende Formate. Deshalb mag ich Tschaikowsky, weil er mit solchen Konventionen bricht. Genau wie Ludwig van Beethoven, der auch mit vielen Gattungsgrenzen brach. Deswegen sind diese beiden meine Lieblingskomponisten.
Das Stück kenne ich nicht, klingt sehr schön. Was könnte das für Musik sein? Es klingt wie der frühe Wagner. Oder Anatoli Ljadow. Erich Wolfgang Korngold? Aber das ist doch schon nah dran, oder? – Christian Sinding, da wäre ich nicht drauf gekommen, obwohl ich seine Musik auch im Repertoire habe.
Das klingt nach einer älteren, romantischen Interpretation dieser Beethoven-Sinfonie. Es könnte sein, dass Herbert von Karajan am Pult steht. Oder Eugen Jochum. – Ah, es ist Leonard Bernstein. Das könnte passen, ich hätte das aber in hundert Jahren nicht herausgehört. Man muss schon ein ganz schöner Klassik-Fanatiker sein, um bei diesem Spiel mehr Treffer zu bekommen. Und das bin ich nicht. Übrigens würde ich immer sagen, man kann Beethoven nicht schlecht spielen. Er ist zeitlos und man kann seine Musik nicht ruinieren. Mit einigen Komponisten ist das so. Selbst wenn man ein Stück von Mozart spielte und jede Note knapp daneben wäre, würden die Menschen Mozart immer noch lieben – und nur die Aufführung geißeln. Interpretation ist immer subjektiv, und man kann Beethoven vielleicht besser spielen als jemand anderes, aber man kann Beethoven nicht besser machen.
Sergiu Celibidache? Oha, das hätte ich nicht erwartet! Das klingt in diesem Teil ja total deprimierend. (auf Deutsch) „Heute keine Freude!“
Das klingt so für mich, als würde jemand sagen: (im Rhythmus der Musik) Leb-en ist hart, all-es ist schlecht – hört auf, hört auf, hört auf! Ich höre etwas völlig anderes in dieser Musik: Enthusiasmus, Hoffnung, Begeisterung. Beethoven war jemand, der trotz aller Widrigkeiten daran geglaubt hat, dass wir zusammenkommen werden als „Brüder“. Er war sehr idealistisch. Seine Musik verkörpert eine Kompromisslosigkeit, so als wollte er sagen: „Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“ Er erinnert uns daran, dass wir uns nicht mit unwichtigem Kleinkram aufhalten sollten – auch auf zwischenmenschlicher Ebene nicht. Ich mag diesen Menschen Beethoven so sehr und ich denke, das ist der Grund, warum ich seine Musik liebe. Wenn ich seine Musik interpretiere, erzähle ich gleichzeitig zu hundert Prozent die Geschichte seines Lebens und wofür er steht.
Termine
Baltic Sea Philharmonic, Kristjan Järvi
Järvi: Ascending Swans, Runic Prayer & Midnight Sun, Strawinsky: Der Feuervogel, Rääts: Konzert für Kammerorchester Nr. 1 op. 16 (Auszüge), Tubin: Estnische Tanzsuite, Jürgens. The Dream of Tabu-tabu
Baltic Sea Philharmonic, Kristjan Järvi
Strawinsky: Der Feuervogel, Rääts: Konzert für Kammerorchester Nr. 1 op. 16 (Auszüge), Tubin: Setu Tants, Jürgens: The Dream of Tabu-tabu, Järvi: Ascending Swans, Runic Prayer & Midnight Sun
Baltic Sea Philharmonic, Kristjan Järvi
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