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Kurz gefragt Yannick Nézet-Séguin

„Am Pult auf mich allein gestellt“

Yannick Nézet-Séguin, Musikdirektor des Philadelphia Orchestra, gastiert im April mit dem Rotterdam Philharmonic in Deutschland. Hier spricht er über …

vonJakob Buhre,

… Sport

Sport mache ich jeden zweiten Tag. Bin ich unterwegs, jogge ich gerne in den großen Parks der verschiedenen Städte. Es war ungefähr vor zehn Jahren in Montreal, als ich merkte, dass meine Schulter schmerzt. Daraufhin bat ich eine Trainerin, mich im Konzert zu beobachten: Sie entwickelte dann ein spezielles Programm für mich, auch für den Muskelaufbau und die Körperbalance. Seitdem hatte ich keine Verletzung mehr. Das Training ist wichtig für mich, um genügend Ausdauer zu haben. Ich würde es hassen, hätte ich auf einmal nicht mehr genügend Energie, um all die Bewegungen zu machen, die ich für meine Interpretation brauche.

… Musik im Elternhaus

Meine Eltern hatten eine sehr eklektische Plattensammlung. Mich faszinierte all die verschiedene Musik, und ich hatte zwei Lieblingsplatten: eine Tschaikowsky-Aufnahme des Philadelphia Orchestra unter Eugene Ormandy und eine Mozart-Platte der Berliner Philharmoniker unter Karajan. Die habe ich als Kind aufgelegt und so getan, als würde ich dazu dirigieren. So entstand meine Faszination für klassische Musik.

… Prägung durch Lehrer

Viel Repertoire, das ich dirigiere, habe ich alleine einstudiert, ohne Lehrer oder einen Mentor. Das ist sehr schwierig, du öffnest eine Partitur, es entstehen sofort viele Fragen – und am liebsten hättest du gleich die Antworten. Alleine braucht man mehr Zeit, der Prozess ist schmerzhafter. Aber ich glaube, jede Antwort ist in der Partitur enthalten und du musst sie selbst finden. Ich sage nicht, dass es schlecht ist, einen Lehrer zu haben, aber ich persönlich schätze diese Erfahrung sehr, dass ich die Stücke erforscht und jede Interpretationsentscheidung selbst getroffen habe.

… Inspiration durch Tennis

Tennisprofis müssen ja nicht nur körperlich sehr fit sein, sondern auch über drei, vier Stunden die Konzentration halten – so lange wie eine Oper. Natürlich ist eine Aufführung kein Spiel mit einem Gegner, aber wie im Sport können auch unvorhergesehene Dinge geschehen, auf die man sofort reagieren muss. Und genauso, wie ein Tennisprofi keinen Trainer auf dem Platz hat, bin auch ich am Pult ganz auf mich allein gestellt und kann in dem Moment niemanden um Rat fragen. Es hilft mir zu sehen, wie Tennisspieler in dieser Situation agieren.

… Globalisierung

Ich kenne den Vorwurf, dass die Globalisierung angeblich dazu führt, dass alle Orchester gleich klingen, weil nun jeder Musiker in jedem Land spielen kann. Doch ich denke nicht, dass sie diesen Einfluss hat. Auf dem Papier mag es vielleicht so aussehen, wenn etwa in einem französischen Orchester nicht mehr alle Bläser Franzosen sind und deshalb weniger Musiker französisches Fagott spielen. Ich glaube aber an die Tradition eines jeden Orchesters, die sich überträgt. Das Orchester ist heute eine der wenigen Institutionen auf der Welt, wo Wissen nicht nur durch das Gespräch miteinander weitergegeben wird, sondern auch dadurch, dass ein junger Musiker neben einem Kollegen sitzt, der schon 30 Jahre im Orchester ist, und versucht – bewusst oder unbewusst – diesen Kollegen nachzuahmen, um sich in das Orchester einzufügen.

… politischen Protest im Konzertsaal

Ein Konzert sollte ein Konzert sein. Allenfalls sehe ich im Konzertsaal Raum für Debatten wie damals bei der Uraufführung von Strawinskys Le sacre du printemps im Théâtre des Champs-Élysées: Das war ein Aufruhr, aber es ging um die Kunst an sich, nicht um Politik. Wenn allerdings Künstler, die auf der Bühne stehen, sich politisch äußern, dann kann ich es dem Publikum nicht verübeln, wenn es den Konzertsaal auch als Ort für die politische Debatte nutzen will. Wobei es mir persönlich lieber wäre, wenn all das außerhalb des Konzertsaals stattfände.

… den Protestruf „Ihr Schweigen tötet russische Homosexuelle“ in der New Yorker Met, gerichtet an den Dirigenten und Putin-Freund Valery Gergiev

Konkret dazu möchte ich nichts sagen, denn diese Angelegenheit ist sehr komplex. Nur so viel: Bei all dem, was ich vorher über Künstler und Politik gesagt habe, hatte ich auch diesen Fall im Hinterkopf.

… Dirigenten-Frisuren

Das scheint für viele ein interessantes Thema zu sein, tatsächlich gibt es ja gerade einige lockige Dirigenten. Ich freue mich für all die Kollegen, die wundervolle Haare haben und für das Publikum ein Hingucker sind. Bei mir ist das nicht der Fall. Natürlich berührt das auch die Frage, was wir als Dirigenten repräsentieren: Ich denke, wenn wir im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen und uns viele Leute anblicken, sollten wir damit respektvoll umgehen. Wichtiger ist mir aber noch, dass die Musiker mich gern angucken, es also nicht ablehnen, zu mir aufzuschauen. Wie das Publikum mein Aussehen bewertet, ist für mich sekundär, solange ich nicht so aussehe, als sei ich gerade aus dem Bett gefallen.

… hellen und dunklen Orchesterklang

Wenn ich über ein Orchester sage, dass es einen „dunklen“ Klang hat, dann ist das keinesfalls negativ. Im Gegenteil: Jeder Musiker versucht, eine gewisse Dunkelheit zu erreichen, niemand wünscht sich zu viel Helligkeit. Ich vergleiche das gerne mit einem schönen, dunklen Holz – also nicht wie das helle Holz in einer finnischen Sauna, sondern so dunkel wie in einer edlen Bibliothek. Die Streicher des Philadelphia Orchestra etwa haben für mich definitiv einen dunklen Sound.

… das Instrument, das ihn am besten charakterisiert

Eine schwierige Frage – vielleicht das Horn. Zuerst einmal liebe ich seinen Platz im Zentrum des Klangkörpers. Dann kann es zum einen ein Melodieinstrument sein, aber auch so kraftvoll wie das ganze Orchester. Und eben das versuche ich als Künstler: allen Gegensätzen in einem Stück gerecht zu werden, also nicht nur einseitig, sondern sehr vielseitig zu sein.

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