Alfred Brendel sagte sofort ein Interview in Hamburg zu, bat allerdings darum, die Fragen vorab geschickt zu bekommen (etwas, worum man mich noch nie gebeten hatte). Zwei Tage vor dem Interviewtag erhielt ich dann einen Anruf von ihm. „In meinem Terminkalender ist etwas durcheinandergeraten, ich sehe nicht, wie ich das übermorgen schaffen soll. Aber ich könnte Ihnen meine Antworten doch schreiben. Die besten Interviews von mir sind die, auf deren Fragen ich schriftlich antworten konnte.“ Kurz darauf erhielt ich per Fax vier Seiten mit seinen handschriftlichen Antworten. „Hoffentlich können Sie alles lesen! Mit schönen Grüßen Alfred Brendel.“
Herr Brendel, Ihre Programme werden angekündigt mit „Vortrag und Klavier“. Was darf das Publikum erwarten?
Ich spiele innerhalb meiner Vorträge mindestens sechzig Klavierbeispiele, meist kurz und fragmentarisch.
Warum haben Sie aufgehört zu konzertieren?
Auf die Frage, wie möchten Sie sterben, habe ich geantwortet: „rechtzeitig“. Allerdings lebe ich immer noch, und mit einigem Vergnügen.
Wie ist es Ihnen gegangen ohne Publikum? Ist Applaus doch eine Droge?
Ich bin überhaupt nicht süchtig. Und ich habe immer noch ein Publikum bei meinen Vorträgen, Lesungen oder Seminaren.
Spielen Sie genauso viel Klavier wie früher? Weniger zielgerichtet? Mit mehr Genuss?
Ich spiele weniger als früher und immer zielgerichtet im Hinblick auf meine Vorträge.
Ihr musikalisches Werk ist abgeschlossen. Was ist Ihnen als Hinterlassenschaft besonders wichtig? CDs oder Erinnerungen der Zuhörer an Konzert-Erlebnisse?
Beides ist mir wichtig, auch was meine Aufnahmen betrifft, sowohl Studio als auch live. Die CD-Serie Artists‘ Choice bei Decca ist von mir als Destillat aus meinen vielen Einspielungen gedacht, eine Versammlung einiger Aufnahmen, die man in erster Linie hören sollte. Zu den fünf Doppel-CDs, die bis vor drei Jahren erschienen, sind noch zwei neue als Gruß zu meinem 80. Geburtstag hinzugekommen. Meine musikalische Tätigkeit ist nicht abgeschlossen – die kommt nun meiner Arbeit mit Streichquartetten, Sängern und Pianisten zugute.
Über welche Einschätzung für Ihr pianistisches Lebenswerk wären Sie besonders glücklich?
Wenn man mich als einen Pianisten in Erinnerung behalten würde, der konsequent seinen eigenen persönlichen Weg gegangen ist, ohne exzentrisch zu werden.
Gibt es einen Komponisten oder Werke, bei denen Sie das Gefühl haben: Den oder die habe ich am besten verstanden?
Wenn ich Beethoven sagen würde, dann möchte ich Schubert sagen und dann Haydn etc. etc. Es gibt Werke (etwa Beethovens Diabelli-Variationen), von denen ich in verschiedenen Aufnahmen Lösungen anbieten konnte. Und andere. Unter diesen anderen war etwa Mozarts große F-Dur-Sonate, vielleicht seine schwierigste, die besser zu spielen ich bis zuletzt versucht habe. In der Aufnahme meines letzten Soloabends in Hannover im Dezember 2008 hat das Früchte getragen.
Sie haben einen breiten musikalischen Blickwinkel. Warum haben Sie sich auf der Bühne meist auf wenige Komponisten beschränkt? Ist das etwas, das Sie generell jungen Kollegen als Rat geben?
Ich habe Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Weber, Schumann, Liszt, Brahms, Mussorgsky, Busoni und Schönberg gespielt – und einiges mehr! In den letzten 15 Jahren meiner Konzerttätigkeit habe ich dann, aus physischen Gründen, einige „athletische“ Stücke aus dem Repertoire genommen: Beethovens op. 106, Schuberts Wandererfantasie, Liszts h-Moll-Sonate, die Brahms-Konzerte, das Schönberg-Konzert, ohne viel zu leiden: Es bleibt noch so viel Großartiges übrig. Und die Musik von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert gehört eben zum Wichtigsten, Bewegendsten und Beglückendsten. Ein junger Pianist sollte vieles spielen, aber sich zugleich klarzumachen suchen: Wo ist die größte Qualität? Mit welchen Werken lohnt es sich, ein Leben zu verbringen?
Sie zeigen sich als Dichter eigenschöpferisch, als Musiker nur nach-schöpferisch. Warum? Oder lassen Sie Ihre Kompositionen in der Schublade?
Ich weiß im Moment nicht einmal, wo die Schublade mit meinen frühen Kompositionen ist. Mit dem Komponieren habe ich – von einigen Kadenzen zu Mozart-Konzerten abgesehen – vor 60 Jahren aufgehört. Doch diese Kompositions-Erfahrung ist für mein musikalisches Leben wichtig geblieben. Wie ist ein Stück komponiert? Wie führt ein Meisterwerk vom ersten zum letzten Ton? Was ist für bestimmte Komponisten charakteristisch und unterschiedet sie von anderen? Was bedeutet die Niederschrift eines Werkes? Wie genau und sinnvoll vermochte ein Komponist seine Werke zu bezeichnen? Das sind einige Fragen, die ein Interpret, der selbst komponiert hat, sich eben stellen wird. Die Gedichte sind unangemeldet gekommen. Es war der schönste Bonus meiner späteren Jahre.
Sie haben viele musikanalytische Aufsätze veröffentlicht. Sind die entstanden als Nebenprodukt der Interpretationsarbeit oder weil diese Aufgabe Ihnen Vergnügen bereitet?
Ich habe Essays veröffentlicht, von denen manche auch analytisch sind. Immer war mir wichtig, dass beides, Form und Psychologie, Struktur und Charakter, präsent ist. Diese Aufsätze sind nicht entstanden, um meine Arbeit als Interpret zu rechtfertigen. Meist suchte ich, Fragen zu beantworten, auf die ich keine ausreichenden Antworten in der Literatur gefunden hatte. Sie waren zunächst an mich selbst gerichtet. Zugleich versuchte ich, so klar und elegant wie möglich zu schreiben, um damit auch anderen nützlich zu sein, nach dem Motto: „Alles soll so einfach wie möglich gemacht werden, aber nicht einfacher“ (Einstein). Literatur, Beschäftigung mit der Sprache, entzücktes und kritisches Lesen waren mir seit jeher ein Bedürfnis. Ich führe, neben dem musikalischen, ein literarisches Leben!
Wie ist Ihr Verhältnis zum Klavier nach so vielen Jahren?
Wenn der Flügel meinen (sehr anspruchsvollen) Bedürfnissen entspricht, ist es Liebe.
Haben Sie nie Sehnsucht gehabt nach „mehr“ Klang, zu dirigieren?
Es ist mir schön und schwierig genug, den Flügel zu transzendieren, ihn in ein Orchester zu verwandeln. Beim Spielen dirigiere ich mich selbst.
War das ein guter Zeitpunkt aufzuhören – weil die goldenen Zeiten der Klassik vorbei sind?
Ich habe nicht aufgehört aus Kulturpessimismus. Bei aller Skepsis! Die Musik hat bisher immer noch weitergeführt.
Was dürfen wir noch erwarten? Eine schriftstellerische Phase? Doch das Comeback?
Comeback – dass ich nicht lache! Schreiben: vielleicht. Am liebsten wäre ich ein großer Aphoristiker. Vielleicht wenn ich hundert bin?