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Musiktheater-Kritik: Novoflot – Die T-House Tour

Eingeladen zum Genuss

(Berlin, 6.9.2014) Die Berliner Musiktheatergruppe Novoflot hat keine Lust mehr auf Stadttheater und flüchtet ins japanische Teehaus

vonMatthias Nöther,

Das Gebilde im Foyer des Radialsystems sieht aus wie ein Tunnel, bestehend aus ungleichmäßig gesteckten, eckigen Aluminiumstangen. Durch die Lücken, als wären es transparente Wände einer Flugzeug-Gangway, beobachtet das Publikum Künstler, die scheinbar auf der Durchreise sind. Währenddessen gehen sie Tätigkeiten nach, die sie auch im wirklichen Leben ebenso stark beschäftigen dürften wie die Kunst selbst: dem Ein- und Auspacken von Instrumenten, dem Austarieren der Soundanlage, dem Einspielen. Ein stummes Video mit Untertiteln erscheint an einer Wand: Eine ältere Dame fragt telefonisch bei einem gewissen Herrn Flugelmeier an, wann denn nun endlich die Spielzeit anfange und sie ihre Ticket-Gutscheine einlösen könne.

Die Kunst besteht fort

Genau dazu wird es vermutlich nie kommen. Herr Flugelmeier legt wortlos auf. In der von Novoflot gewohnten Rätselhaftigkeit und Offenheit spielt die Musiktheatergruppe den größten anzunehmenden Unfall des deutschen Kulturbetriebs durch: dass eines nicht fernen Herbstes sich nach der Sommerpause kein Vorhang eines deutschen, öffentlich subventionierten Stadt- oder Staatstheater mehr hebt. Doch Novoflot denkt weniger darüber nach, was dies kulturpolitisch bedeuten, sondern eher, was sich daraus für die Kunst ergeben könnte. Die Künstler werden dann andere Wege des Fortbestehens gefunden haben, von denen die gespielten Werke natürlich nicht unberührt bleiben. Improvisation, Ritual, Meditation, Artistik – das scheinen die Form-Anker zu sein, die der Bühnenkunst bleiben, wenn sie seit den Zeiten Shakespeares das erste Mal wieder ohne feste äußere Form, ohne Stadttheater und Opernhaus auskommen muss.

Die T-House Tour heißt dieses neueste Bühnenexperiment von Novoflot, welches sich, wie Ende 2013 bereits die eigenwillige Restauration der russischen Futuristenoper Der Sieg über die Sonne, über mehrere Tage erstreckt. Damals gab es zum Teil improvisatorisch immer neu disponierte Aufführungen an verschiedenen Berliner Orten über etwa zehn Tage, nun erstrecken sich die „Tourstationen“ über fünf Events bis zum Januar 2015.

Neues soll entstehen

Man ahnte es schon bei der Futuristenoper: Der Gedanke des zeitlich und örtlich nicht mehr zusammenhängenden Bühnenwerks wird von Novoflot auf das Auseinanderbrechen der traditionellen Kulturinstitutionen bezogen, die die Wiederkehr und die Neuschöpfung des Zusammenhängenden überhaupt garantiert haben. Die Folgen dieses Auseinanderbrechens sollen nicht dafür sorgen, dass das Publikum lediglich – parallel zu den feuilletonistischen Klagen über kulturpolitische Sparmaßnahmen – die Abwesenheit von etwas empfindet. Dies ist wohl einer der zentralen Novoflot-Gedanken. Es soll Neues entstehen, nicht aus dem Mangel heraus, nicht aus dem selbstbezüglichen Nachdenken über prekäre, unflexible Produktionsbedingungen, also eben nicht wie in den alten unbeweglichen Stadttheater-Strukturen, sondern viel Kunst-und-Welt-umfassender.

In den Assoziationen an eine japanische Teehaus-Zeremonie, die vor allem durch die Einlagen der Tänzerin Ichi Go hervorgerufen werden, wird etwas Wesentliches auch des alten westeuropäischen Konzepts von „Hochkultur“ wiedererinnert, das unter Schichten der Attitüde über die Jahrhunderte begraben wurde: der Aspekt des Einladens, des Eingeladenwerdens zum Genuss und zum Nachdenken zugleich. Wenn Kunst nicht mehr in den zentralen Tempeln der Städte stattfindet, sondern Künstler ihren Raum immer erst konstituieren und das Publikum einladen müssen, tritt dieser Aspekt stärker hervor – wie auch die Frage, wo das Leben aufhört und ein zusammenhängendes Kunstwerk beginnt.

Im Bann fremder und schöner Klänge

Auch das Eigengewicht des musikalischen Ereignisses wird dann stärker sein als jedwedes intellektuell ersonnene Konzept: An diesem Abend geschieht dies weniger durch das rätselhaft rituelle Treiben der singenden, tanzenden und spielenden Improvisationskünstler, als namentlich durch die erratischen Posaunenklänge von Nils Wogram und Conny Bauer sowie durch Wu Wei, den virtuosen Spieler des chinesischen Blasinstruments Sheng.

Zusammenhänge lassen sich für den Zuschauer aus dem im Radialsystem Erlebten vielleicht erst mehrere Tage nach dem unmittelbaren Genuss ziehen, doch um diesen muss man sich bei der Aufführung keine Sorgen machen. Novoflot zielt, stärker noch als bei früheren, sehr an Konzepten orientierten Produktionen, auf das, was den Zuschauer in Bann ziehen kann: die Sinnlichkeit, das Eigengewicht ungewohnter, fremder und schöner Klänge.

Radialsystem V in Berlin

Novoflot: Die T-House Tour

Ausführende: Vicente Larrañaga (Leitung), Sven Holm (Regie), GRAFT Architekten & Annamaria Cattaneo (Bühne), Sara Kittelmann (Kostüme), Malte Ubenauf (Dramaturgie), Michael Wertmüller (Komposition), Jürg Laederach (Texte), Raphael Clamer (Schauspieler), Ichi Go (Tänzerin), Yuka Yanagihara (Gesang), Conny Bauer/Nils Wogram (Posaune), Lucas Niggli (Drums), Ernst Surberg (Piano), Saadet Trüköz (Voices), Wu Wei (Sheng)

Weitere Tourstationen:

16. bis 19. Oktober 2014: Pavillon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

November: Akademie der Künste am Pariser Platz

Dezember: Brachfläche in der Invalidenstraße

Januar 2015: Radialsystem V

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