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Blind gehört Matthias Kirschnereit

„Manchmal möchte ich Archäologe sein“

Der Pianist Matthias Kirschnereit kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonArnt Cobbers,

Den internationalen Durchbruch brachte Matthias Kirschnereit die weithin gerühmte Gesamteinspielung der Mozart-Klavierkonzerte. Für Mendelssohns rekonstruiertes Klavierkonzert Nr. 3 erhielt er 2009 den Echo Klassik, 2010 brachte er in Putbus auf Rügen das zweite Klavierkonzert von Friedrich von Flotow zur Uraufführung. Der 1962 in Dorsten geborene Kirschnereit, der als Professor in Rostock unterrichtet, hat ein gutes Ohr, wie sich beim „Blind gehört“ bei ihm zu Hause in Hamburg erweist. Keine der Aufnahmen hat er zuvor gehört, aber die Pianisten erkennt er alle! „Das macht Spaß“, sagt er zwischendurch.

Mozart: Klavierkonzert Nr. 19 KV 459

Clara Haskli (Klavier)

Symphonieorchester Winterthur

Henry Swoboda (Leitung) 1950

Westminster/Universal

Das ist das erste Klavierkonzert von Mozart, das ich gelernt habe. Die Bläser sind extrem unsauber, eher mäßiges Tempo, sehr natürlich musiziert. Das Klavier ist sehr in den Orchesterklang eingebunden, und das passt gut hier. Ich tippe mal auf Clara Haskil. Ich bin ein großer Fan von ihr. Ihr Mozart-Spiel ist so unglaublich unprätentiös. Rein und fokussiert und einem Schönheitsgeist verpflichtet. Heute, wo wir historisch informiert sind, ist es mir ein bisschen zu brav. Ich persönlich versuche mehr das Opernhafte, Sprechende in den Vordergrund zu stellen neben dem Singen. Aber Clara Haskil hat eine wunderbar klare Artikulation. Klares Fingerspiel, schlanker Ton, es ist schön federnd im Rhythmus, und sie versucht nicht mehr aus der Musik herauszuholen, als drin ist. Heute hätte sie vermutlich Schwierigkeiten, sich im Musikbusiness zu etablieren. Man muss heute gegen eine ganze Flut von Aufnahmen anspielen, und da ist es leichter, sich mit einer extremen Lesart zu profilieren. Wenn ich eine CD-Aufnahme mache, habe ich für mich schon den Anspruch, dass ich dem Werk auch eine neue Facette abgewinnen muss. Aber es darf nichts Aufgesetztes sein. Ich hasse es, wenn Mozart gegen den Strich gebürstet wird. Die Mozart-Gesamteinspielung war eine tolle Herausforderung. Ich bin in diesen sechs Jahren nicht Mozart-müde geworden, im Gegenteil. Mozart ist wirklich ein Lebenselixier.

Mendelssohn: Lieder ohne Worte

Murray Perahia (Klavier) 1997

Sony Classical

(op. 19 Nr. 3) Schöne Aufnahme, sehr natürlicher Klang, sehr lebendig und schwungvoll gespielt, frisch und mitreißend. Schönes Jeu perlé, schöne Präzision, guter Rhythmus. Witziges Ende. (op 67 Nr. 2) Das liebe ich sehr. Sehr sprechend gespielt, es schwebt. Wer hat denn das aufgenommen? Leif Ove Andsnes hat eine andere Pranke, und Sebastian Knauer findet andere Farben. Vom Spielansatz, vom hellen Klangbild könnte es Perahia sein. Ich finde diese Balance aus pianistischer Frische und großer Präzision, aus schwärmerisch romantischem Geist und Struktur unglaublich. Ich habe einen Meisterkurs beim Schleswig-Holstein Musikfestival bei ihm besucht, und danach haben wir uns noch häufiger getroffen, auch bei ihm zu Hause in London. Er weiß alles über den Aufbau, die Spannungsverhältnisse, die Struktur und die harmonischen Zusammenhänge eines Stückes – und trotzdem strahlt sein Spiel so eine Frische aus. Zu viel Wissen kann einen auch einschnüren, aber bei Perahia ist es nie trocken.

Schumann: Gesänge der Frühe Nr. 1

Maurizio Pollini (Klavier) 2001

Deutsche Grammophon

Ein wunderbares Stück, da kriege ich Gänsehaut. Solch eine abgrundtiefe Melancholie. Dem Brummen und Grummeln im Hintergrund zufolge ist es ein Mann, der sehr engagiert dabei ist. Es hat einen erstaunlichen Bogen, am Ende erschließt sich einiges. Aber ich würde diese Intervallspannung noch mehr erleiden, es ist mir zu glatt, fast metronomisiert gespielt, und mir ist der Ausbruch zu direkt, zu knallig. Es ist ein Schrei, aber der Ausbruch hat auch etwas Jubelndes, Schumann versucht mit einer unglaublichen Kraftanstrengung noch einmal so eine Jugendlichkeit heraufzubeschwören, und dieser euphorische Aspekt fehlt mir hier. Ich finde es insgesamt zu unpoetisch, es sind ja immerhin Gesänge, die müssen eine Magie haben. Ich würde auf Maurizio Pollini tippen. Pollini ist ein phantastischer Pianist, ich habe ihn als Student oft gehört, aber er hat meine Seele nie wirklich berührt. Es gibt Konzerterlebnisse, von denen man zehrt, das hatte ich bei Perahia, bei Brendel, zuletzt bei Sokolov. – Schumann ist mir mit den Jahren immer näher gekommen. Ich habe immer viel Kammermusik von ihm gemacht, aber den mittleren und späten Schumann habe ich früher ein wenig verkannt. Ich dachte nur: Wo ist die geniale provokante Kühnheit der frühen Stücke geblieben? Inzwischen verstehe ich diese zu Herzen gehende Reife, diese Schlichtheit. Da gibt es noch viel zu entdecken. Schumann ist durch und durch Seelenmusiker. Fähig zu extremen Gefühlen, dabei aber sehr gefasst und kontrolliert. In wenigen Takten punktgenau eine Stimmung, einen Charakter einzufangen, das können nur ganz wenige. Gerade die Gesänge der Frühe, das ist Musik, die ganz nach innen gerichtet ist.

Tschaikowsky: Un poco di Chopin

Jonathan Plowright (Klavier) 2010

Aus: Hommage à Chopin

hyperion

Eine Mazurka? Das ist doch nie im Leben Chopin! Dann weiß ich’s: Paderewski! Auch nicht? Ein großer Chopin-Freund war Rachmaninow, ist das ein ganz frühes Stück von ihm? Ein Landsmann? Dann muss es Tschaikowsky sein. Das wäre eine schöne Zugabe. Ein interessantes CD-Konzept! Und sehr ansprechend gespielt. Chopin reizt mich schon. Manchmal fühle ich mich ihm nah, dann entgleitet er mir wieder. Jeder spielt Chopin, aber ich finde, es gibt nicht viele gute Chopin-Interpreten. Und von den Deutschen hat kaum einer Chopin aufgenommen. Das würde mich reizen. Ich kann verstehen, dass Brendel irgendwann aufgehört hat, Chopin zu spielen. Gerade Brahms und Chopin lassen sich nur schwer miteinander vereinbaren.

Brahms: Sonate Nr. 2 fis-Moll op. 2

Hardy Rittner auf einem Streicherflügel von 1851, 2007

MDG

Ich ahne, welche Aufnahme das ist. Das Stück geht erstaunlich gut auf diesem Flügel. Eine schöne Transparenz. Diese Repetitionen im pianissimo sind schwierig auf einem Steinway. Es gefällt mir gut, sehr intelligent gespielt. Die Sehnsucht, das Verlangen im Seitenthema kommt etwas zu kurz, das ist ein bisschen trocken, aber das liegt in der Natur des Instruments. Andererseits muss man in den Oktavexplosionen nie Sorge haben, dass sie das Maß überschreiten, das finde ich ganz schwierig. Die fis-Moll-Sonate ist ja das Wildeste, was Brahms geschrieben hat, ein geniales Meisterwerk. Ist das Hardy Rittner? Respekt. Sehr ehrlich und intelligent gespielt. Und ein fabelhafter Klang. Ich finde es viel interessanter, einen 30- oder 40-Jährigen zu hören als ein 20-jähriges Talent. Großes Talent und Fleiß und Glück gehören zur Karriere – aber auch Charakter. Gut spielen können viele, das pianistische Niveau ist heute enorm hoch. Wenn jemand mit 20 fabelhaft Liszt spielen kann, ist das eindrucksvoll, klar, aber es hat auch was Zirzensisches. Nichts gegen Zirkus, aber Musik ist mehr als Zirkus. Und gerade bei existenzialistischen Meisterwerken hat man mehr zu sagen, wenn man schon vom Leben gezeichnet ist, wenn man schon Krisen und Erfolge erlebt hat. Schon mit 30 Jahren spielt man anders als mit 20.

Reger: Klavierkonzert f-Moll op. 114

Gerhard Oppitz (Klavier), Bamberger Symphoniker, 

Horst Stein (Leitung) 1988

Koch Schwann

(3. Satz, beginnt mit Klavier solo, dann setzt das Orchester ein) Was ist das denn? Das ist ja Ragtime am Anfang, herrlich. Ich dachte anfangs an Saint-Saëns, aber es ist sehr opulent, die Orchesterbehandlung ist Brahmsisch, das ist deutsch. Ist es das Reger-Konzert? Das ist aber ein tolles Stück, das kenne ich gar nicht! Es ist garantiert ein deutscher Pianist. Ich tippe auf Gerhard Oppitz. Phantastisch gespielt. Man merkt die deutsche Ernsthaftigkeit. Horst Stein am Pult? Das passt ja ideal. Ich sehe mich nicht als Raritäten-Pianist, die Ersteinspielungen und Uraufführungen, die ich gemacht habe, haben sich so ergeben. Und dass ich die Ahnung von Schumann als erster einspielen durfte, war ein Glücksfall. Wir sollten nicht nur, wie Brendel gesagt hat, Museumsbeamte sein, das sind wir sowieso. Manchmal möchte ich auch Archäologe sein. Es gibt noch so viel zu entdecken. Ich habe gerade Klavierkonzerte von Julius Röntgen eingespielt, verrückte Musik, eklektizistisch, höchst vital. Röntgen hat sein F-Dur-Konzert ein paar Mal gespielt, dann hat die Partitur hundert Jahre geschlummert. Da können Sie keine CD anhören – Sie sind der erste, der im frischen Schnee Spuren hinterlässt, und das ist toll! Das macht Spaß.

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