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„Das Wort ,Befreiung‘ ist sozusagen Moers-immanent“

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Moers Festival

Das Moers Festival wurde vor mehr als 50 Jahren als Jazz-Festival gegründet. Wie hat es sich seitdem entwickelt?

Tim Isfort: Das Festival entstand als Experiment aus der 68er Studentenbewegung heraus und war kein reines Jazz-Festival im Vergleich etwa zum Deutschen Jazzfestival Frankfurt oder dem Jazzfest Berlin, bei denen der afroamerikanische Jazz quasi importiert wurde. Das Moers Festival war eher ein Ort für den Free Jazz, Avantgarde und Experimentelles. Anfangs haben Musiker*innen aus aller Welt an zwei Tagen gespielt. Über die Jahre hat es sich dann zu einem viertägigen Festival mit mehreren Spielstätten entwickelt. Wer lange vor YouTube nach Moers kam, konnte Dinge sehen und hören, die man sonst vielleicht nicht gesehen oder gehört hätte. Inhaltlich hat es sich über die Jahrzehnte aber geöffnet und erweitert. Heute würde ich sagen, dass wir allem abseits des Mainstreams eine Bühne geben.

Seit 2016 sind Sie Künstlerischer Leiter des Festivals. Was haben Sie zum Festival beigetragen, wie haben Sie ihm Ihren eigenen Stempel aufgedrückt?

Isfort: Ich weiß nicht, was wir jetzt richtig, falsch, gut oder schlecht machen. Ich kann nur sagen, dass es mir wichtig ist, das Erlebnis, das ich als vielleicht 15-Jähriger hatte, weiterzugeben. Damals habe ich mich für unsere Schülerzeitung in den Pressegraben des Festivals geschmuggelt und saß nur zwei Meter von der Bühne entfernt, wie auch unser Publikum heute. Ich finde, dass sich dadurch ein Tor zu musikalischen Welten eröffnet, das andernfalls vielleicht verschlossen bleiben würde. Vor allem aber fragen wir uns, wie wir die ursprüngliche Idee aus 1972 ins Hier und Jetzt übertragen können. Damals wurden die Fragen der 68er-Bewegung verhandelt; heute haben wir es mit der Digitalisierung, dem Klimawandel, Diversität und vielen anderen gesellschaftlich relevanten Themen zu tun, die wir versuchen, programmatisch zu beleuchten.

Wie stark ist das Festival in der Stadt verankert?

Isfort: Wir versuchen, die Idee des Festivals durch verschiedene Angebote und Projekte das ganze Jahr über in Moers präsent zu halten. Eines davon ist unser Konzept der Improviser in Residence, das es mittlerweile im sechzehnten Jahr gibt. Das ist nicht immer leichte Kost und erreicht auch nicht immer die breite Masse (lacht). Aber so kommen auch Menschen, die sonst nichts vom Festival mitbekommen oder keinen Zugang dazu haben, damit auf dem Trödelmarkt, Frühlingsfest oder Schulprojekten in Berührung.

Die Konzerte des Moers Festival öffnen Räume für neue Klangerlebnisse
Die Konzerte des Moers Festival öffnen Räume für neue Klangerlebnisse

Man kennt Artists oder Composers in Residence. Was ist denn ein Improviser in Residence?

Isfort: Die Residenz begann 2008 mit Angelika Niescier und bietet den Künstler*innen die Möglichkeit, ein Jahr lang in Moers zu leben und sich dort mit den Bürger*innen und Musiker*innen zu vernetzen. Sie gibt diesen Kunstschaffenden außerdem die Freiheit, die Hälfte der Zeit eigene Projekte zu verfolgen. Das haben alle bisher ganz unterschiedlich interpretiert, was schön ist, und es sind ganz unerwartete und spannende Sachen entstanden. Sogar während der Corona-Pandemie haben wir das Konzept weitergeführt. Leider konnte Mariá Portugal 2020 nach drei Monaten, in denen sie tolle Sachen gemacht hat, nur noch Online-Konzerte geben. Das war schade, aber das Improvisieren mit immer neuen Umständen macht die Residenz, genauso wie das Festival als Gesamtes, ja auch aus.

In diesem Jahr stellt sich das Kollektiv Recursion der Aufgabe. Warum haben Sie sich für die drei Künstler entschieden?

Isfort: Nachdem wir die letzten Jahre sehr internationale Gäste hatten, haben wir uns in diesem Jahr für drei junge Musiker aus der Region entschieden. Die waren bei meinem ersten Festival 2017 quasi noch Schüler und Zaungäste! Mit der Zeit haben sie sich aber unheimlich weiterentwickelt und im letzten Jahr bereits einige Schwerpunkte während unseres Festivals übernommen. Es geht auch darum, nachfolgende Generationen anzusprechen und das schaffen wir nicht mit veralteten Konzepten, sondern mit Jazzkonzerten, die beispielsweise Einflüsse aus Techno und Elektro aufzeigen. Die Musik kann ganz offen interpretiert werden.

Kommt denn überwiegend älteres Publikum? Wie sieht Ihre Community denn aus?

Isfort: Die ist ganz divers. Es gibt Menschen, die vor fünfzig Jahren mit Afro und Hippieklamotten im matschigen Schlosshof oder auf der Wiese im Freizeitpark saßen und heute nach Platzkarten rufen und Hotelzimmer buchen (lacht). Dann gibt es die Generation, zu der ich mich zähle. Ich bin in den 1980er-Jahren zum Festival gekommen und für mich zählen die Eishallen-Jahre zu den Prägenden. Da hat man die ganze New Yorker-Szene von John Zorn bis Arto Lindsay gehört. Über die Jahre hat sich das Festival aber programmatisch geöffnet und dadurch immer wieder neues Publikum mitgebracht oder angelockt.

Dieses Jahr dreht sich das Festival um die Schlagworte AUFBRUCH, ?AFRIKA, KYLWIRIA, WERT, BEFREIUNG. Können Sie das näher beschreiben?

Isfort: Das Wort „Befreiung“ ist sozusagen Moers-immanent. Das war quasi der Beginn des Festivals, denn man wollte die Welt 1972 nicht mehr so hinnehmen, wie sie war. Womit wir uns vor allem während der Pandemie sehr viel beschäftigt haben, ist der Wert oder die Wertschätzung von Musik und Kultur. Vielen Künstler*innen hat trotz einiger Rettungsprogramme die Wertschätzung gefehlt – vor allem in der freien Szene. Da sind wirklich viele auf der Strecke geblieben. Deswegen diskutieren wir auch zum Thema „Wert“: Gehe ich ans Telefon, wenn ich gerade Musik höre? Was ist in dem Moment wichtiger? Darüber kommt man schnell auf eine ganz philosophischere Ebene, und fragt sich, worüber sich eine Kultur letztlich definiert und was wir glauben, zum Überleben zu brauchen – und wenn man noch weiter geht, zu der Frage, ob Kultur essentiell ist zum Überleben unserer Menschheit.

Zu Kylwiria: Das ist György Ligetis utopisches Land mit eigener Sprache, Grammatik, sozialer Ordnung und naiver Gerechtigkeit, das er sich mit fünf Jahren ausgedacht hat. Mit dreizehn hat er das Land verlassen, und der realen Welt seine tolle Musik geschenkt, die so viele Künstler*innen geprägt hat. Zufällig fällt sein 100. Geburtstag auf einen unserer Festivaltage und das gibt uns natürlich Anlass, verschiedene Perspektiven auf sein Werk einzunehmen.

Das Fragezeichen vor Afrika provoziert die Diskussion um die Komplexität des afrikanischen Kontinents, den wir immer lapidar auf diese paar Buchstaben herunterbrechen. Aufgrund der vielschichtigen und unterschiedlichen Probleme, allein schon beim Einladen von dortigen Acts, haben wir uns vorgenommen, jedes Jahr den Fokus auf ein anderes afrikanisches Land zu legen, angefangen mit Äquatorialguinea. Eigentlich eine xenophobe Diktatur mit einer kleinen Musikszene, die würdevoll Musik und Tradition miteinander vereint.

Es lohnt sich wirklich, differenziert in die einzelnen Länder des Kontinents zu schauen, sie zu bereisen, die studentische Szene zu entdecken und tiefer in die jeweiligen Musikkulturen einzutauchen. Dies möchten wir abbilden.

Die Corona-Pandemie hat uns quasi dazu „genötigt“, einen Aufbruch ins Digitale zu wagen und neue Formate zu erfinden. Als es im März 2020 hieß, dass nichts stattfinden kann, wollten wir das nicht hinnehmen, denn für uns ist es ein Naturgesetz, dass das Moers Festival an Pfingsten begangen wird. Wir haben also digitale und hybride Formate entwickelt. Daneben möchten wir Seismograf für aktuelle politische Ereignisse und musikalische Strömungen sein und das Festival auch nach Pfingsten präsent halten. Deswegen haben wir unsere digitale Plattform moerslandVR entwickelt, in der Inhalte noch monatelang abrufbar sind und so Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander vereint.

Ehrt seinen Vater beim diesjährigen Moers Festival: Lukas Ligeti
Ehrt seinen Vater beim diesjährigen Moers Festival: Lukas Ligeti

Einen übergeordneten Aspekt stellen die Begriffe MUT und DEMUT dar. Was ist damit genau gemeint?

Isfort: Vordergründig zeigt unser diesjähriges Plakat fünf visualisierte, sich miteinander verbindende Knotenpunkte im Gehirn, die für die fünf eben genannten Begriffe stehen – die inhaltlichen Schwerpunkte, die das Programm verbinden. Wir können aber nicht einfach nur ein Festival machen, das ausblendet, in welchem Zustand die Welt da draußen gerade ist. Wer etwas tiefer gräbt, bekommt sozusagen den Hinweis auf zwei übergeordnete Begriffe, von denen wir glauben, dass sie momentan vielen Menschen ganz gut täten. Damit greifen wir im übertragenen Sinne die ursprüngliche Festivalidee auf, die Welt ein wenig ins Positive zu verändern. Die Protagonisten der Gründerzeit sagten damals wortwörtlich: „Wir wollten damals die Welt nicht mehr so haben, wie sie war.“

Der 100. Geburtstag György Ligetis bildet einen weiteren Schwerpunkt des Festivals. Sein Sohn Lukas Ligeti ist mit mehreren Projekten in Moers zu Gast. Wie ist die Zusammenarbeit zustande gekommen und war das Miteinander?

Isfort: Die Zusammenarbeit mit ihm ist total nett! Ich wusste, dass er Verbindungen zu unserem Festival hat, da er viele Musiker*innen aus dem Moers-Kosmos kennt und mit ihnen musiziert. Er selbst versteht sich auch als Wandler zwischen den Welten in den Bereichen Improvisation und Komposition und hat einen starken Bezug zu afrikanischen Musikkulturen, insbesondere Burkina Faso. Ich habe ihn also angerufen, und wir haben erst einmal über Gott und die Welt gesprochen, bevor wir uns überhaupt der Musik gewidmet haben.

Dann stellte sich heraus, dass er über Pfingsten eigentlich fast durchgängig Zeit für Moers hat – er müsse am 28. Mai nur eine Straße in Budapest einweihen, die nach seinem Vater benannt wird. Und so kam eins zum anderen und wir konnten viele spannende Projekte mit ihm entwickeln. Er wird in Moers über seinen Vater sprechen und insgesamt mit drei sehr verschiedenen musikalischen Projekten auf der Bühne stehen. An seiner Bereitschaft und Experimentierfreude zeigt sich, dass er wirklich Bock auf Moers hat. Und das ist doch ein tolles Geschenk.

Das Moers Festival ist in diesem Jahr zum dritten Mal für den Deutschen Jazzpreis in der Kategorie „Festival des Jahres“ nominiert. Wie groß ist die Hoffnung, dass Sie den Preis mit nach Hause nehmen dürfen?

Isfort: Riesengroß! Aber wir sind ja auch kein Jazzfestival im klassischen Sinne, sondern eher eine Merkwürdigkeit in der Festival-Landschaft. Programmatisch hat Moers seit jeher viele offene Enden. Dennoch würden wir uns natürlich total freuen, wenn wir gewinnen würden, weil wir das Geld dann in unser Programm, die Kunst und die Musik investieren würden.

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