Mit etwas Fantasie kann man sich schon vorstellen, dass irgendwo in den Bergen, die hinter dem Festspiel- und dem Passionsspielhaus in Erl aufragen, Wotan missmutig auf das Erdengeschehen hinabblickt, das ihm mehr und mehr zu entgleiten droht. Hautnah erleben kann man den Gott aus Wagners „Ring“-Tetralogie indes auf der Bühne des Passionsspielhauses, wo Regisseurin Brigitte Fassbaender anknüpfend an „Das Rheingold“ und „Die Walküre“ im letzten Jahr bei den diesjährigen Tiroler Fest-spielen Erl mit „Siegfried“ und der „Götterdämmerung“ den „Ring“-Kreis schließt.

„Wir haben mit neuen Ideen, einer sehr hohen musikalischen Qualität und interessanten Inszenierungen neue Visionen entworfen. Trotz Corona und einiger Ausfälle haben wir 2022 gute Produktionen auf die Beine gestellt. Jetzt sind wir gespannt, wie der ,Ring‘ zu Ende geht“, sagt Bernd Loebe, der in der Saison 2019/2020 die künstlerische Leitung des Festivals übernommen hat und für die Sommerfestspiele vom 6. bis 30. Juli ein so vielseitiges und verlockendes Programmpaket geschnürt hat, dass auch Menschen ohne Opernvorliebe voll auf ihre Kosten kommen. Zwar erklingen auch beim Eröffnungskonzert mit Wagners „Siegfrieds Tod“ und Verdis Vorspiel aus „Nabucco“ zwei Bühnenmusiken, aber mit Reinhold Glières „The Zaporozhian Cossacks“ und Edward Elgars „Introduction and Allegro“ weiten das Orchester und der Chor der Tiroler Festspiele Erl unter der Leitung von Erik Nielsen den Fokus bis hin zu Anton Bruckners überwältigendem Chorwerk „Te Deum“, das der sonst so selbstkriti-sche Komponist als „Stolz meines Lebens“ bezeichnete.

Ein wahres Füllhorn an Stilen und Musikrichtungen

Die Camerata Salzburg unter der musikalischen Leitung von Gregory Ahss findet sich in der beschaulichen am Inn gelegenen Tiroler Gemeinde mit Werken von Haydn, Mendelssohn und Beethoven ein und hat für ihre beiden Konzerte im Festspielhaus zwei hervorragend Solisten gewinnen können: Die für ihre blitzsaubere Intonation und ihren schlanken, delikaten Ton gefeierte Geigerin Veronika Eberle darf ohne Übertreibung als Idealbesetzung für Mendelssohns Violinkonzert bezeichnet werden, in dem die klassische Eleganz auf federleichten Schwingen ihre Pirouetten dreht. Pianist Fazıl Say schöpft indes in Beethovens sinfonisch angelegtem dritten Klavierkonzert aus seiner breiten Kenntnis des Repertoires – hat er doch vor drei Jahren eine Kompletteinspielung der 32 Klaviersonaten vorgelegt.

© Felix Broede

Veronika Eberle

Veronika Eberle

Freuen darf man sich auch auf ein moderiertes Jubiläumskonzert mit Bariton Oskar Hillebrandt, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert und zur Matinee mit fünf hochdekorierten Sängerkollegen antritt: Ildiko Raimoni, Renate Behle, Christian Franz, Gerhard Siegel und Falk Struckmann. Ein wahres Füllhorn an Stilen und Musikrichtungen wird sich mit Christian Muthspiels „La Melodia della Strada“ über das Publikum ergießen. Der Komponist selbst dirigiert das Orjazztra Vienna durch das abendfüllende Werk, das 2022 im Auftrag des Grazer Straßenfestivals „La Strada“ entstand, und das den 18 Jazz-Solistinnen und -Solisten ganz individuelle Entfaltungsmöglichkeiten bietet.

Überreicher Vokalglanz und Kammermusikalische Höhepunkte

Ein ganz besonderes Wiederhören gibt es mit der Capella Minsk, die in diesem Jahr zusammen mit der Bundesmusikkapelle Erl ein Familienkonzert mit traditioneller Chor- und Kindermusik aus Belarus und dem osteuropäischen Raum in Verbindung mit Klängen aus Tirol und Österreich erarbeitet hat. Überreichen Vokalglanz darf man auch erwarten, wenn vier Sängerinnen und Sänger der Internationalen Meistersingerakademie aus Neumarkt in der Oberpfalz Perlen des Belcanto von Rossini, Donizetti und Bellini streuen und wenn die Wiener Sängerknaben bei den Tiroler Festspielen ihr 525-jähriges Jubiläum feiern – mit Werken des klassischen Repertoires, aber auch Stücken und Arrangements, die noch nie zuvor auf Tourneen zu hören waren.

© Julia Stix

Mit Sinn für schräge Klänge: Musicbanda Franui

Mit Sinn für schräge Klänge: Musicbanda Franui

Die Sparte der Kammermusik wird in diesem Jahr besonders farbreich vom Schumann Quartett beleuchtet. Während die drei Brüder Erik, Ken und Mark Schumann sowie Bratschist Veit Hertenstein schon beim Eröffnungskonzert in Elgars „Introduction and Allegro“ mit ihrer Virtuosität glänzen können, haben sie sich Streichquartette von Schumann, Mendelssohn und Brahms ausgesucht, um Martina Gedecks Lesung deutscher Lyrik in den Klangraum der Romantik zu stellen. Zu den Anfängen der Romantik kehrt das junge Ensemble, das weltweit für seine mitreißenden Interpretationen gefeiert wird, bei seinem dritten Auftritt zurück, bei dem Beethovens Streichquartette Nr. 4 c-Moll op. 18 und Nr. 15 a-Moll op. 132 sowie Schumanns Streichquartett Nr. 1 a-Moll op. 41 auf dem Programm stehen.

Nachwuchsförderung wird bei den Tiroler Festspielen Erl großgeschrieben

Wer Repertoireraritäten zu schätzen weiß, wird besonders beim Auftritt von Bratschistin Mariko Hara, Klarinettist Levan Tskhadadze und Cellist Yuga Okamoto mit dem Festspielorchester hellhörig. Nach Mozarts Klarinettenquintett führen Astor Piazzollas „Chant et Fugue“ sowie Max Bruchs „Kol Nidrei“ und sein Doppelkonzert für Klarinette und Viola auf selten betretene Pfade. Sinn für schräge Klänge muss man indes des Musicbanda Franui attestieren, die mit Hackbrett, Harfe, Zither, Violine, Kontrabass, Akkordeon und allerlei Holz- und Blechblasinstrumenten dem gefeierten Puppenspieler Nikolaus Habjan unter die Arme greift. Der Abend „Alles nicht wahr“ mit Liedern des großen österreichischen Menschenkenners und Wortakrobaten Georg Kreisler hält manch bitterböse Pointe bereit. Ganz dem inneren Empfinden verpflichtet, leuchtet dagegen der junge Bariton Konstantin Krimmel den sehnenden Mikrokosmos Franz Schuberts aus – mit dem „Schwanengesang“ und sechs Liedern nach Texten von Johann Gabriel Seidl.

© Marija Kanizaj

Lässt auch in Erl die Puppen tanzen: Nikolaus Habjan

Lässt auch in Erl die Puppen tanzen: Nikolaus Habjan

Auch die Nachwuchsförderung wird bei den Tiroler Festspielen Erl großgeschrieben. Neben den mit vielen jungen Sängerinnen und Sängern besetzten Opernproduktionen wird sich auch in diesem Jahr wieder die festivaleigene Orchesterakademie der jüngsten Generation von Profimusikern annehmen und die Preisträger im Rahmen eines eigenen Konzerts vorstellen. Und allen, die noch heute von der Aufführung von Humperdincks „Die Königskinder“ im vorletzten Jahr schwärmen, sei gesagt: Wiedersehen macht Freude! Auch in diesem Jahr steht Matthew Wilds gefeierte Inszenierung wieder auf dem Programm.