Herr Loebe, kurz vor Beginn der Pandemie haben Sie die künstlerische Leitung der Tiroler Festspiele Erl übernommen. Hat das die Aufbruchstimmung sehr ausgebremst?

Bernd Loebe: Trotz Corona und einiger Ausfälle haben wir in den letzten Jahren neue Visionen entworfen und gute Produktionen mit einer sehr hohen musikalischen Qualität auf die Beine gestellt. Jetzt sind wir gespannt, wie Wagners „Ring“ mit „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ zu Ende gehen wird. Regisseurin Brigitte Fassbaender, die ich ja schon von meiner Arbeit als Intendant der Oper Frankfurt kenne, hat bei den letzten Festspielen mit unglaublicher Energie, Lust und Liebe für das Sujet die Opern „Das Rheingold“ und „Die Walküre“ auf eine wunderbare Ebene gebracht. Und wir sind zuversichtlich, dass es auf diesem Niveau weitergeht.

Warum passt Wagner so gut nach Erl?

Loebe: Das Passionshaus strahlt eine fast religiöse Aura aus. Außerdem sitzt das Orchester hinter den Sängern. Dadurch haben die Sänger nicht das Gefühl, sie müssen forcieren und lauter sein, um mit ihren Stimmen beim Publikum anzukommen. Sie können im Gegenteil fast in einem erzählerischen Duktus sehr textverständlich ihrer Arbeit nachgehen.

Offenbar eine ideale Bühne gerade auch für junge Sängerinnen und Sänger …

Loebe: Tatsächlich ist es aufgrund dieser Konstellation, in der kein Wettkampf zwischen Orchester und Sängern entsteht, möglich, junge Sänger an diese großen Partien heranzuführen.

In Erl wird Nachwuchsförderung großgeschrieben. Was können die Festspiele hier leisten?

Loebe: Der Gedanke der Nachwuchsförderung pflastert mein ganzes berufliches Leben, ob während meiner elf Jahre am Brüsseler Opernhaus La Monnaie oder meiner einundzwanzig Jahre in Frankfurt. Auch durch die finanzielle Grundsituation sind wir immer wieder genötigt, junge Sänger zu finden, die am Anfang eine möglichen großen Karriere stehen. In Frankfurt wie auch in Erl haben wir, glaube ich, eine gute Hand dafür, diese Talente früh zu entdecken, zu fördern und sie dann so zu beglücken, dass sie später auch gerne zurückkommen. Aber natürlich haben wir auch die arrivierten, erfahrenen Sänger mit dabei, von denen die jungen lernen können. Nur mit jungen Sängern kann man keinen „Siegfried“ und keine „Götterdämmerung“ machen. Es kommt auf eine gute Mischung an.

Warum haben Sie sich entschlossen, Matthew Wilds Inszenierung von Humperdincks „Die Königskinder“ aus dem Sommer 2021 wieder ins Programm aufzunehmen?

Loebe: Wir haben festgestellt, dass sich bei beliebten Produktionen der Publikumszufluss mit jeder Vorstellung vergrößert. Offenbar empfehlen Menschen unter Freunden und Verwandten weiter, was ihnen gut gefallen hat. Darauf bauen wir jetzt mit den „Königskindern“. Vielleicht schaut sich der eine oder andere, der in erster Linie den „Siegfried“ oder die Götterdämmerung“ sehen wollte, auch noch zusätzlich „Die Königskinder“ an.

An drei Abenden in diesem Sommer ist das Schumann Quartett zu erleben. Welche Qualitäten schreiben Sie ihm zu?

Loebe: Das Schumann Quartett hat bei den letzten Festspielen in der Hochphase von Corona und eingeschränkten Reisemöglichkeiten einen kuriosen Auftritt gehabt. Die Musiker kamen verspätet an, der Primarius hatte keinen Noten und keinen Smoking dabei, weil sein Koffer verloren gegangen war. Trotz dieser psychischen Belastung war das Konzert so großartig, dass ich den Musikern gesagt haben, sie sollten so schnell wie möglich wiederkommen. Ich kannte das Quartett, das auch oft in Frankfurt spielt, schon von früher. Inzwischen gehört es zu den führenden Streichquartetten seiner Generation. Es reist um die Welt, hat in der Wigmore Hall gespielt. Ein wirklich ernst zu nehmendes, unglaublich feurig spielendes Quartett von drei Brüdern, die Schumann heißen. Ich bin froh, dass sie bei unserem Eröffnungskonzert mit dabei sind. In einem weiteren Konzert stehen sie mit der hervorragenden Schauspielerin Martina Gedeck als Rezitatorin auf dem Podium, und einen dritten Abend gestaltet das Schumann Quartett allein.

Wie lange sollten sich Besucher idealerweise in Erl einquartieren, um ein optimales Festspielerlebnis zu haben?

Loebe: Ich empfehle vier oder fünf Tage. Dann kann man zwei verschiedene Opern sehen, ein sinfonisches Konzert oder ein Belcanto-Konzert mit Mitgliedern der Meistersinger-Akademie Neumarkt. Man kann einen Kammermusikabend einstreuen und vielleicht auch einen freien Abend einplanen, um in ein Haubenrestaurant zu gehen, direkt in Erl gelegen oder nicht weit davon entfernt. Es gibt ein El Dorado von guten Restaurants in dieser Gegend. Man kann auch Ausflüge nach Elmau oder Kitzbühel machen, sich die Altstädte in Kufstein oder Rosenheim anschauen oder das 1300 Meter hohe Kranzhorn be-steigen. Außerdem gibt es ein Freibad, in dem man Wotan treffen kann, wenn er seine Bahnen schwimmt.