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Blickwinkel: Martin Maria Krüger

„Für so viele Menschen muss es Lösungen geben“

Martin Maria Krüger, Präsident des Deutschen Musikrates, über die Empfehlungen zur Wiederaufnahme des musikalischen Betriebs in Deutschland.

vonMatthias Nöther,

Herr Krüger, noch ist ein Öffnungsszenario ungewiss. Sicher ist: Allzu lange dürfte es mit bundesweiten Öffnungen für die Musikinstitutionen und die Laienmusik-Aktivitäten nicht mehr dauern. Bereits für die temporären Öffnungen im letzten Herbst hat der Deutsche Musikrat Empfehlungen abgegeben. Gibt es bei den Empfehlungen jetzt Neuerungen?

Martin Maria Krüger: Es war gar nicht das Ziel dieses Papiers, grundlegend neue Erkenntnisse darzulegen. Aber es muss – genauso wie es für den Sport der Fall ist – für die Musik überhaupt ein Öffnungsszenario existieren. Und dafür sind die Erkenntnisse aus den Untersuchungen 2020 fortgeschrieben worden. Es gab zum Beispiel die Studien der Charité mit Hilfe von Berliner Orchestern zur Frage, was an musikalischen Veranstaltungen mit entsprechenden Abstands- und Hygienemaßnahmen möglich wäre. Tatsächlich haben die Berliner Philharmoniker und viele andere unter diesen Vorgaben im Herbst etliche Konzerte gespielt – und es gab nachweislich keine Infektionen, auch nicht in den Opernhäusern. Natürlich war der zweite Lockdown richtig. Aber wenn sich der Lauf der Pandemie jetzt zum Positiven dreht, dann muss es für die Musik ein Szenario des Öffnens geben – übrigens ausdrücklich auch für das aktive Singen und Musizieren im Amateurbereich. Der Sport ist im Stufenplan der Bundesregierung enthalten, ebenso die Museen. Der Fünf-Stufen-Plan der Bundesregierung von März erlaubt die Öffnung von Theatern und Konzerthäusern unter einer Inzidenz von 100. Doch wie genau soll dort musiziert werden? Für das konkrete aktive Ausüben von Musik gibt es von Seiten der Politik bisher keinen Plan – weder für das professionelle Musizieren noch für das nichtprofessionelle. Dabei wäre gerade letzteres gesamtgesellschaftlich sehr wichtig. Das Allensbacher Institut, dessen demoskopische Studien bedeutend sind, hat gerade ermittelt, dass 600.000 Menschen beruflich Musik machen, darüber hinaus aber 14,3 Millionen Menschen in Deutschland als Liebhaber singen und musizieren. Jeder sechste Mensch, der in Deutschland lebt, hat also aktiv mit Musik zu tun. Für so viele Menschen muss es Lösungen geben.

Die Charité untersuchte letzten Sommer zum Beispiel den Aerosol-Ausstoß von Orchestermusikern, die unter Pandemiebedingungen erforderliche Raumgröße bei Proben und Aufführungen, den nötigen Abstand von Musikern und Publikum untereinander, die erforderliche Luftzufuhr und vieles mehr. Das war alles sehr detailliert – trotzdem ist seit November alles dicht…

Krüger: Die Ergebnisse belegen auf jeden Fall, dass mit einer jeweils anzupassenden Menge von Ausführenden und Publikum Musikveranstaltungen grundsätzlich stattfinden können. Sie belegen, dass es Lösungen gibt. Und das ist das Entscheidende. Das Problem ist, dass die Musik bei allem, was politisch verkündet wird – und vor allem bei diesem Papier zur Wiedereröffnung des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens – nicht vorkommt.

Gibt es in den Hygienekonzepten Leerstellen – also Fragen, die bisher nicht durch Forschungen beantwortet werden konnten?

Krüger: Was wir natürlich alle noch nicht wissen: Inwieweit können Geimpfte das Virus noch übertragen? Wenn man Antworten darauf hat, wird man sie auch in die Öffnungspläne für die Kultur einarbeiten müssen. Grundsätzlich gilt aber schon seit Beginn der Pandemie: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit, sich nicht anzustecken. Die gibt es auch im Sport nicht. Sie sehen, dass die großen Fußballvereine trotz ihrer Vorsichtsmaßnahmen immer wieder Corona-Fälle haben. Im täglichen Leben wissen die Menschen oft ja auch nicht, woher ihre Infektion rührt. Sie sind sich oft nicht bewusst, sich falsch verhalten zu haben. Wenn man musikalisch etwas durchführen will, dafür aber die vollkommene Sicherheit versprechen muss, dann kann man musikalisch eben nichts durchführen – weil ein solches Sicherheitsversprechen unseriös wäre. Man kann es nur so sicher gestalten, wie es gerade geht. In den warmen Monaten, die jetzt kommen, gilt ja deshalb die Empfehlung, im Amateurbereich nach Möglichkeit vor allem draußen zu proben und zu musizieren. Unser Papier differenziert genau wie der Stufenplan der Bundesregierung: Was sollte möglich sein bei welchen örtlichen Voraussetzungen? Es gibt ja nun mal Räume mit sehr guten Lüftungsmöglichkeiten und solche, bei denen das weniger der Fall ist. Aber in beiden Fällen sollte man genau schauen, was möglich ist.

Professionelle Orchester und Chöre können sich über Gewerkschaften und Vertretungen in der Politik mit einem gewissen Eigengewicht Gehör verschaffen – wenn auch offenbar längst nicht genügend. Müssen sich Verbände wie der Deutsche Musikrat nicht für das Laienmusizieren nochmal ganz anders ins Zeug legen als für den Profibereich?

Krüger: Dass Amateure nicht genügend Interessenvertretung hätten, möchte ich so pauschal nicht behaupten. In der ersten Shutdown-Welle war in Bayern zum Beispiel das Chorsingen komplett verboten. Da hat sich die Presse deutlich hinter das Amateurmusizieren gestellt, und es musste von politischer Seite reagiert werden. In einem bestimmten Rahmen wurde das Chorsingen wieder ermöglicht. Über ihre Landes- und Bundesverbände – etwa den Bundesverband Chöre und Orchester – hat die Laienmusikszene schon politisches Gewicht. Es wurde ja nunmehr auch im Rahmen des „Neustart Kultur“-Programms der Kulturstaatsministerin ein Programm aufgelegt. Das Bewusstsein bei der Politik, dass Amateurmusikerinnen und -musiker ein großes Problem haben, dieses Bewusstsein ist schon da. Deshalb erstaunt es mich um so mehr, dass die Musik im Stufenplan der Bundesregierung nicht vorkommt.

Es erstaunt Sie – haben Sie eine Vermutung, weshalb das so ist?

Krüger: Wenn wir jetzt mal diesen Fünf-Stufen-Plan nehmen, den Bund und Länder als Ausstiegsszenario aus dem Shutdown entworfen haben, dann glaube ich, dass bei den entscheidenden Sitzungen bestimmte Leute fehlten: diejenigen nämlich, die die Kultur vertreten. Natürlich steht der Gedanke an die leidende Wirtschaft im Vordergrund. Außerdem ist der Sport medial präsenter als die Kultur – auch wenn das Musizieren von Amateuren eine so nachhaltige Rolle im Leben vieler Menschen spielt. Wobei man sagen muss: Dem Amateursport geht es zurzeit auch nicht besser als der Kultur. Aber es gibt für ihn wenigstens das Ausstiegsszenario aus dem Lockdown.

Hier geht es zum Papier des Deutschen Musikrates e. V. und Konferenz der Landesmusikräte im Deutschen Musikrat:

Empfehlungen zur Wiederaufnahme des musikalischen Betriebs im Amateur- und Profibereich unter Beachtung entsprechender Hygienekonzepte

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