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Blickwinkel: Jan Dvořák

„Die Ideen müssen aus der Kulturwelt kommen“

Nicht nur Corona sei schuld an der Zurückhaltung des Publikums, meint Jan Dvořák. Der Komponist und Autor war bis 2019 Chefdramaturg der Oper am Nationaltheater Mannheim und hat als aktueller künstlerischer Leiter des Opernfestivals „Mannheimer Sommer“ ein 9-Euro-Festival-Ticket eingeführt. Wie erfolgversprechend sind derlei Lockangebote?

vonSören Ingwersen,

Beim diesjährigen „Mannheimer Sommer“ erhielten Besucher pro erworbener Eintrittskarte für eine Veranstaltung zum regulären Preis bis zu zwei weitere Karten für je 9 Euro in der gleichen Platzkategorie. Warum haben Sie sich für dieses Angebot entschieden?

Jan Dvořák: Im Bereich der Oper wünschen sich alle ein jüngeres Publikum. die Eintrittspreise sind dafür aber sehr hoch. Daher ist die Idee einer Art Kultur-Flatrate attraktiv, weil jüngere Menschen eine solche Flatrate auch aus vielen anderen Zusammenhängen kennen. So kamen wir auf die Idee, das 9-Euro-Ticket als Marketingtool einzusetzen.

Es ist also nicht nur eine Maßnahme, um das Vor-Corona-Niveau wieder zu erreichen, sondern ein Projekt mit Zukunft?

Dvořák: Wir ahnten natürlich schon, dass es nicht so leicht wird, direkt nach Corona ein Festival durchzuführen. Es war aber gleichzeitig ein Versuchsballon, um neue Werkzeuge für das Marketing auszuprobieren. Viele Marketingspezialisten sagen ja, wirkungsvoll seien nur Aktionen, die mit Preisnachlässen zu tun haben. Das wollten wir einmal ausprobieren.

Wie bewerten Sie den Erfolg?

Dvořák: Wir haben einige hundert Karten auf diesem Weg verkauft, was dazu geführt hat, dass auffällig viele junge Leute im Publikum saßen. Das war natürlich erfreulich, obwohl die Situation nach Corona immer noch schwierig ist. Zufrieden kann man nicht sein.

Warum dauert es so lange, bis das Publikum wieder an Veranstaltungen teilnimmt?

Dvořák: Wir verzeichnen im Kulturbetrieb seit vielen Jahren eine steigende Zahl von Veranstaltungen und Veranstaltungsräumen bei gleichzeitig immer kleineren Publikumsmengen. Die Opern- und Schauspielhäuser sind sehr groß gebaut, weil sie aus einer Zeit stammen, in der der Oper- und Theaterbesuch für ein bestimmtes Milieu noch verpflichtenden Charakter hatte. Seit Ende der 1960er-Jahre klagt man über ein schrumpfendes Publikum. Dieser sehr langsame Prozess wurde durch die coronabedingte Krisensituation nun beschleunigt. Das ist inzwischen schon sehr beunruhigend, insofern sollte man verschärft nachdenken, wie man dieser Tendenz entgegenwirken kann.

Was könnte man neben vergünstigten Tickets denn noch tun?

Dvořák: Das ist auch eine Frage der Inhalte. Es gibt da fast ein „Bermuda-Dreieck“: erstens die Öffnung zu neuen Inhalten – ohne populistisch zu werden, zweitens die Aufrechterhaltung des Anspruchs, der ja auch durch den Kulturauftrag eingefordert wird, und drittens die Ökonomie mit Kartenpreisen und Abonnentensystemen, die nicht mehr in die Zeit passen. Eine Patentlösung gibt es nicht, deshalb muss man experimentieren und Strukturen in den einzelnen Bereichen verändern, glaube ich.

Ist die Öffnung zu neuen Inhalten kein zweischneidiges Schwert, weil viele Menschen doch lieber Vertrautes hören und sehen wollen?

Dvořák: Wenn man den Leuten immer nur das vorspielt, was sie hören wollen, zieht man sich langfristig selbst den Boden unter den Füßen weg. Was könnte im Musiktheater neu und populär zugleich sein? Mit dem Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl zum Beispiel arbeite ich seit Jahren an Theaterabenden, die emotional funktionieren und eindeutig lesbar sind, aber trotzdem komplexe Inhalte vermitteln – ob es nun klassische Opern oder neu entwickelte Projekte sind. Das hat zum Beispiel mit einer ungebrochenen Erzählweise zu tun, die genau das sagt, was sie sagen will. In diesem Bereich wird noch zu wenig gewagt und ausprobiert.

Noch einmal zurück zum 9-Euro-Ticket. Lassen sich solche Angebote überhaupt längerfristig aufrechterhalten, wenn pro Besucher deutlich weniger Geld eingenommen wird? Wünschen Sie sich da Unterstützung vonseiten der Kulturpolitik?

Dvořák: Ein Festival wie der „Mannheimer Sommer“ hat ja eine abgeschlossene Kalkulation mit entsprechenden Fördergeldern. Der Anteil, der wieder eingespielt wird, ist dabei relativ klein, so dass sich der Verlust durch niedrigere Kartenpreise in Grenzen hält. Wenn man dieses Flatrate-Prinzip aber beispielsweise nur für eine spezielle, jüngere Besuchergruppe öffnet, sollte es auch im laufenden Theaterbetrieb möglich sein. Städte, die eine Kultur-Flatrate gebunden an den studentischen Semesterbeitrag eingeführt haben, verzeichnen sehr viel mehr Studenten im Publikum, die sonst vielleicht gar nicht ins Theater gegangen wären. Im Sinne einer kulturellen Einbeziehung ist das Gold wert.

Auch im Sinne der Nachhaltigkeit? Wer heute mit einem 9-Euro-Ticket auf den Geschmack kommt, zahlt in zehn Jahren vielleicht den vollen Preis.

Dvořák: Absolut. Als Musiker oder Theatermensch hat man ja immer das Gefühl, es gehöre zu den normalen Lebensfunktionen, sich diese Sachen anzuschauen und anzuhören. Aber es ist natürlich eine erlernte Funktion. Wir sollten uns nicht darauf verlassen, dass Menschen über 50 ganz von selbst in die Oper kommen.

Hat die Kulturpolitik während Corona versagt?

Dvořák: Ich finde, nein. Es gab am Ende sehr viele Corona-Förderprogramme für die Kunstszene. Mit dem merkwürdigen Effekt, dass manchmal der Eindruck entstand, es gehe auch ganz ohne Ergebnisse und Aufführungen, und man könne sich allein für einen künstlerischen Gedanken bezahlen lassen. Aber auf die langfristige künstlerische Entwicklung, die ich eben skizziert habe, hat die Politik eher wenig Einfluss. Da müssen die Theater und Konzerthäuser selber handeln. Die Ideen müssen aus der Kulturwelt kommen!

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