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Blind gehört Philip Ahmann

„Der Klang muss lebendig sein“

NDR Chordirektor Philipp Ahmann hört und kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, wer singt und dirigiert

vonArnt Cobbers,

Seit 2008 gehört Philipp Ahmann einem exklusiven Kreis an: Der Rheinländer, der bei Marcus Creed Dirigieren studiert hat und seit 2005 künstlerischer Leiter des Bonner Kammerchors und der Kartäuserkantorei Köln ist, leitet einen der sieben deutschen Rundfunkchöre: den NDR Chor. Beim Blind gehört in seinem Chordirektorenbüro an der Hamburger Rothenbaumchaussee kommentiert er teils während des Hörens, teils anschließend.

Schubert: Nachthelle

Werner Güra (Tenor)

RIAS Kammerchor

Marcus Creed (Leitung) 1998

harmonia mundi

Das ist der RIAS Kammerchor unter Marcus Creed – finde ich toll. Sie singen schön leicht, ein feiner Männerchorklang. Und Werner Güra als Solist finde ich hier fantastisch! Das Stück ist sehr schwer für den Solo-Tenor von der Lage her, da braucht man einen hohen lyrischen Tenor mit einer gewissen Leichtigkeit, aber auch einer Strahlkraft in der Stimme. Hier verschmilzt seine Stimme sehr schön mit dem Chorklang. Es hat eine angenehme, akkurate Schlankheit und Transparenz. Aber man hört im Chor einen Tenor heraus. Das Problem ist, dass man größere und kleinere Stimmen hat. Wenn der Lauteste so laut singt, wie er kann, ist er viel lauter als sein Nachbar mit kleinerer Stimme. Insofern darf er nicht ganz so laut singen. Aber er darf sich auch nicht zu sehr zurücknehmen, denn als Chorleiter will man ja Sänger, die führen und den Klang prägen, jeder einzelne sollte diese Fähigkeit haben … Sicher kann man als Dirigent den Klang formen. Intonation ist dabei wichtig, das kann und muss man üben. Der RIAS-Kammerchor hat unter Marcus Creed einen speziellen Klang bekommen auch durch die spezielle Intonation, die Creed durchgesetzt hat. Die Vokalfärbung ist ein wichtiger Aspekt, sehr wichtig auch, wie mischfähig das Timbre des Einzelnen in der Gruppe ist. Chorsänger müssen stimmlich flexibel, also in der Lage sein, die Stimme den Gegebenheiten der Nachbarn anzupassen, und sie dürfen nicht herausstechen wollen. … Als Chorsänger singt man täglich Ensemble. Der NDR-Chor probt jeden Tag, das sind ganz normale Arbeitnehmer. (lacht) … Ich leite ungefähr die Hälfte der Spielzeit, den Rest machen Gastdirigenten. Als Chorleiter arbeitet man länger mit einem Chor als ein Orchesterdirigent mit einem Orchester. Um ein Programm zu lernen, einen Klang zu finden, um dem Chor seine Vorstellungen vom Stück zu vermitteln, braucht es Zeit, die man sich als Dirigent nehmen sollte. Die Sänger müssen den Notentext lernen und gleichzeitig ein Stück in die Stimme kriegen. Für ein abendfüllendes anspruchsvolles A-cappella-Programm proben wir etwa zwei Wochen, abhängig von den Stücken mehr oder weniger.

Pepping: Passionsbericht des Matthäus

Rundfunkchor Berlin

Stefan Parkmann (Leitung) 2007

Coviello Classics

Das Stück klingt auf jeden Fall nicht leicht, ziemlich spröde Musik, ich mag diese komischen Quint- und Quartklänge irgendwie nicht, dass ist mir zu verschroben. Am Anfang dachte ich, es könnte Distler sein, aber dafür ist es zu schwer. Krenek? Es klingt viel weniger ausbalanciert als die RIAS-Aufnahme, was an der Aufnahmetechnik liegen mag. Der Bass ist zu dominant, es ist nicht so sauber, weniger homogen in den Stimmgruppen. Berliner Rundfunkchor – na ja, der Chor ist auch viel größer als RIAS, das ist was anderes. Ist das Pepping? – Mochte ich noch nie, ist mir irgendwie zu unsinnlich. Können wir den Anfang nochmal hören? … Ich bleibe dabei – gefällt mir leider nicht. Die Musik finde ich dröge, aber ich glaube Ihnen gern, dass die Aufführung eindrucksvoll war.

Mahler: Sinfonie Nr. 8 „Sinfonie der Tausend“

BBC Chorus, BBC Choral Society u.a.

London Symphonie Orchestra

Jascha Horenstein (Leitung) 1959

BBC Legends

Das ist ein tolles Stück, aber es ist ein Massenstück. Kriegen Sie mal einen Chor von 300 Sängern wirklich fein homogen! Das ist schwierig. Für das Stück aber vielleicht auch nicht so nötig. Die singen hier mit viel und unterschiedlichem Vibrato. Es gibt auch heute noch Chöre, die so singen, aber es ist wahrscheinlich eine ältere Aufnahme? … Das Stück ist ein Brocken – ich bin gespannt, wie wir das im Mai hinkriegen werden. Das hier ist leider ein bisschen gebrüllt. Und ich finde, wie so oft bei Orchesteraufnahmen, dass der Chor zu weit im Hintergrund ist. Da hat der Chor dieselbe Motivik wie die Posaunen, und man hört die Posaunen mit ein bisschen Text dazu. Es wäre schön, wenn der Chor in Chorstücken in der Mischung dieselbe Geltung bekäme.

Brahms: Ein deutsches Requiem

Tschechischer Philharmonischer Chor Brünn

Tschechische Staatsphilharmonie Brünn

Enoch zu Guttenberg (Leitung) 2001

Farao Classics

Der Chor klingt gut! Ein schöner, warmer, kraftvoller und frischer Klang, schön sauber der Anfang, ich finde das Crescendo zum Sforzato am Anfang ein bisschen zu stark, zu überdeutlich, aber das ist Geschmackssache. Klingt nach vielen Leuten. Von der Anlage her eher alte romantische Schule, aber trotzdem schön (lacht). (2. Satz) Sie überbetonen sehr die Phrasierungen. Es klingt nach einer Live-Aufnahme, nicht alles ist gut zusammen. (wir hören kurz in die weiteren Sätze hinein) „Herr Ssebaoth!“ Die Bässe singen „sälig“. Am Anfang hätte ich nicht gedacht, dass es ein ausländischer Chor ist. Es ist sehr pointiert von der Artikulation im Orchester, da hat sich jemand anscheinend sehr viele Gedanken gemacht, manches habe ich so noch nicht gehört, interessant! Guttenberg? Da lag ich ja nicht so falsch, dass es nicht aus der Alte-Musik-Szene kommt. Ich kenne nicht viel von ihm, habe ein, zwei Sachen im Fernsehen gesehen, mir fehlt ein bisschen die Natürlichkeit. Aber man hört, dass ihm an der Wortausdeutung liegt. Und den Chor finde ich ganz erstaunlich!

Desprez: Qui habitat

Huelga-Ensemble

Paul van Nevel (Leitung) 2005

harmonia mundi

Das ist ein Alte-Musik-Ensemble. Es klingt sehr schön und rein. Ja, wir können das auch mit dem NDR-Chor! Die Frage ist nur, ob wir das so gut könnten. Dazu braucht man viel Erfahrung und die passenden Stimmen, und das Huelgas-Ensemble macht nur sowas. Ich habe sie mal live gehört in Haarlem. Sie standen im Kreis, Paul van Nevel in der Mitte – er hat eigentlich nur den Takt geschlagen. Trotzdem war es sehr expressiv – toll! Was es ausmacht, ist die konsequente schlanke Stimmgebung, quasi vibratolos, sehr clean. Ich mag das für diese Musik, weil man dadurch eine Klarheit und Transparenz des Klangs bekommt, die wunderbar ist. Die Rundfunkchöre haben alle ein unterschiedliches Profil und unterschiedliche Vorstellungen vom Klang. Aber einige wie der Schwedische Rundfunkchor und der RIAS haben maßgeblich die Entwicklung vorangetrieben, auch durch die Auseinandersetzung mit älterer Musik: den Klang aufziehen zu können und dennoch die Stimme ruhig zu führen und so eine Transparenz zu erreichen, eine Strahlkraft und Homogenität, die es vorher so nicht gab. Unter Rademann ist der NDR-Chor auch in diese Richtung gegangen, zumindest schließe ich das aus den Aufnahmen. Auch in den Interpretationen hat man sich an den Errungenschaften der Alte-Musik-Bewegung orientiert. Und das hat unheimlich viele neue Anstöße gegeben auch für Brahms, Mendelssohn und generell die Romantik. … Ja, ich würde sagen, Musik des 17. Jahrhunderts gehört auch ins Repertoire eines Rundfunkchors, weil sie Beweglichkeit, Leichtigkeit und Flexibilität fordert! Als Sänger sollte man in der Lage sein, auch dieses Klangideal zu bedienen. Aber das hat viel damit zu tun, was für Stimmen man hat. Wenn die Stimmen zu groß sind, macht man eben besser was anderes mit ihnen. Wahrscheinlich auch ein Grund, warum jemand wie Herreweghe seinen eigenen Chor gegründet hat. Aber dazu gehört enorme Organisationsarbeit und inzwischen auch viel Geld, denn das ist ja nicht die Laienszene, sondern die freiberufliche Profi-Szene, und die Sänger wollen auch Geld verdienen.

Vasks: Dona nobis pacem

Lettischer Rundfunk-Chor

Sivards Klava (Leitung) 2007

Ondine

Ist das etwas Baltisches? Vasks? Wahnsinnig spannend ist es nicht, aber in einem bestimmten Programmzusammenhang könnte es ganz wirkungsvoll sein. Es ist sehr eingängig, hat was Meditatives, so wie viele neuere Chorstücke aus Ländern, die eine lebendige Chortradition haben wie Skandinavien, England, das Baltikum. Stücke, die tonal, nicht zu modern sind und sehr mit dem Klang arbeiten, teils originelle Sachen, aber auch sehr viel Seichtes. Dennoch muss man zugutehalten, dass die Komponisten vermutlich die Rezipienten mehr im Blick haben als bei uns. … Der Sopran ist wie ein dünner Strahl, ziemlich knabig hell, vielleicht ein englischer Chor? Dann vermutlich ein Chor aus dem Baltikum. Es fehlt mir ein bisschen der Kern, es ist mir einen Tick zu schlicht schön. Ich möchte eine ruhige Stimmführung im Chor haben, aber der Klang muss trotzdem Fluss haben und lebendig sein.

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