Wer gerne Programmhefte und Eintrittskarten aufbewahrt, der könnte im Falle der neuen „Carmen“ im Staatstheater Kassel noch einige SMS-Nachrichten archivieren. Denn an der ersten Station (die in der neuen Raumbühnen-Variante Antipolis die gesamte Bühne einbezieht) beginnt der Abend für einen Teil der Zuschauer (die dann nach der Pause das Geschehen von einem Platz der umlaufenden Gerüstgalerien über dem Orchester verfolgen), unter Umständen mir nichts, dir nichts mit der Verpflichtung, als „inoffizieller Mitarbeiter des Verfassungsdienstes“ tätig zu werden. Dazu gehört die Aufforderung, sich unauffällig zu verhalten und in dieser Eigenschaft die Zigarettenfabrik zu infiltrieren.
Wenn man den QR-Code gescannt hat, dann folgen im Laufe des Abends noch weitere sieben Kurzmitteilungen. In der letzten gibt es den Hinweis, dass die „Operation aufgeflogen“ ist und „diese Konversation nie stattgefunden hat“. Sie endet in guter alter „Kobra übernehmen Sie“-Manier mit: „Löschen Sie den Gesprächsverlauf. Ihr Handy wir sich in 30 Sekunden selbst zerstö>>>//ERROR“. Macht es natürlich nicht.
Das Staatstheater Kassel als Zigarettenfabrikant
Aber mit der Aufforderung zur Unauffälligkeit wird ernst gemacht, denn für jeden der so eingeschleusten Zuschauer liegt auf den Bänken ein blauer Arbeitskittel bereit, wie ihn die Fabrikarbeiterinnen schon anhaben. Dazu eine dünne Haube und die Aufgabe, wie diese arbeitenden Chorfrauen fleißig Zigarettenhüllen mit Tabak zu füllen. Marke „Bohemiens Blondes“ mit stilisiertem Stier, nebst dem Vermerk „Liberté toujours“. Da, wo sonst der belehrende Aufdruck steht, dass Rauchen der Gesundheit schadet bzw. tödlich sein kann, ist hier nur der Urheber dieser Marke vermerkt: Staatstheater Kassel. Mit vorbereiteten – und im zweiten Teil noch viel besser live produzierten Videos – warnen allerdings junge Mädchen in Fast-Pionier-Montur davor, wie schädlich der Kapitalismus allenthalben sein kann. Soviel Didaktik muss dann doch sein. Aber sie funktioniert, weil sie mit einem Quantum ironischer Altklugheit serviert wird.
Dass das verführerische Klischee der Carmen als selbstbewusster Verführerin durchgängig (auch irgendwie belehrend) mit Boheme übersetzt wird, vermeidet die Kollision mit jener Sprachkorrektur, die nur noch Roma und Sinti zulässt, egal, was in den überlieferten Texten steht. Das bleibt zwar eine, wenn auch im Programmheft gut erläuterte Referenz, an den Zeitgeist, fügt sich aber in den Kontext der Inszenierung, in der Carmen vor allem eine Vorkämpferin für eine Freiheit ist, die ihre Vehemenz aus dem Kontra zur bestehenden Ordnung inklusive der dominierenden Macho-Männlichkeit bezieht.
Theater der Wirklichkeit
Über die Echtheit der uniformierten Polizisten, denen man auf dem Weg zu seinem Platz begegnet, ist man vor allem deshalb für einen Moment im Zweifel, weil die echte (allerdings wehrhaft dunkelblau gerüstete Polizei) in der Königsstraße auf der Höhe des Fridericianums vor der Vorstellung gerade eine verbotene Demonstration gestoppt und aufgelöst hatte, bei der minderjährige Demonstranten das Bild bestimmten, die hessische Polizei aber eine Lehrbuchvorführung lieferte, wie man deeskaliert und durch eine klare Ansage verhängte Versammlungsverbote durchsetzt.
Es gibt noch eine Szene in dieser „Carmen“-Inszenierung des Kassler Intendanten Florian Lutz, die von der Wirklichkeit überholt wurde. Als am Ende bei dem Großereignis (eigentlich der Stierkampf, in dessen Schatten sich laut Vorlage Don José und Carmen zum Showdown ihrer Beziehung begegnen) ein Versammlungspodium und der Zuschauersaal von bunt maskierten Terroristen gestürmt und die Podiumsteilnehmer attackiert werden, steigen unwillkürlich die Nachrichtenbilder der letzten Tage aus Israel auf.
Neue Nähe
Durch die Konfrontation mit den Zigarettenarbeiterinnen, der Polizei von heute, einer bunten Truppe von Aussteigern, den Kapitalismusanalyse-Häppchen altkluger junger Gretas & Co., den Nachrichtenbildern über die Suche nach der sexy Terroristin Carmen, die über die vielen Bildschirme flimmern, die meistens Nahaufnahmen und die (porentief reinen) Übertitel liefern, erzeugt für die Zuschauer, die mitten im Geschehen sind, tatsächlich eine Nähe und Unmittelbarkeit.
Freilich eher zum Kunstwerk und seiner Realisierung, als zu dem, was es selbst bedeutet. Also zu den Choristen, die mit Feuereifer und Präzision ihre Rolle spielen, wohl kaum aber zu den echten Fabrikarbeiterinnen. Ähnlich verhält es sich mit den Machoallüren der Vertreter der Staatsmacht oder von Stars wie Escamillo, der hier folgerichtig als Fussballstar aufmarschiert und sich von seinen Fans feiern lässt.
Raumbühnen-Perfektion
Und doch bieten die Raumbühnen, die Florian Lutz und Sebastian Hannak erst in Halle und jetzt in Kassel zu einer gewissen Perfektion entwickelt haben und für deren aktuelle Version Antipolis sage und schreibe 60 Tonnen Stahl verbaut wurden, tatsächlich ein Opern-Erlebnis der besonderen Art. Der Reiz großer Nähe (selbst zu Carmen persönlich) wird mit diversen Abstrichen beim Klangerlebnis erkauft. Der Abstand wird aber mit fortschreitend passgenau ausgleichender Ton-Aussteuerung immer kleiner. Und er wird aufgewogen durch das Erlebnis von unmittelbarer Nähe zu den Protagonisten, in diesem Falle zu den Menschenmassen auf der Bühne!
Fabelhaftes Protagonisten-Ensemble
Kiril Stankow hat nicht nur sein Orchester bestens im Griff, sondern auch den außergewöhnlichen Koordinierungsaufwand von Auftritten an den entlegensten Ecken der Raumbühne. Allein das ist faszinierend und lässt die eingängige Musik viel öfter nach Freiheit klingen, als wenn sie zwischen Liebesglut, Eifersucht und Stierkampf pendelt. Dazu kommt ein fabelhaftes Protagonisten-Ensemble mit Ilseyar Khayrullova als attraktiv verführerischer, aber vor allem selbstbewusster Carmen an der Spitze. Es macht Sinn, wenn sie am Ende die Szene erhobenen Hauptes an der Spitze ihrer Leute verlässt, mal nicht auf der Strecke bleibt, sondern zum Langlauf für ihre Vorstellung von Freiheit aufbricht.
Aldo di Toro ist mit seinem geschmeidigen Tenor ein erstklassiger Don José. Dass er im Habitus hier mehr einem gemütlichen Beamten, als einem jungen Hitzkopf entspricht, münzt er in ein glaubwürdig scheiterndes Gegenüber dieser Liebesbeziehung um. Margrethe Fredheim ist als Dorfpolizisten-Pendant eine passende Micaëla, die ohne jede Bemitleidung auskommt. Filippo Bettoschi überzeugt als Fußballmacho vor allem in seinem Habitus, vokal hätte man sich da etwas mehr überwältigende Escamillo-Wucht gewünscht.
Im Protagonisten-Ensemble konnten sich Don Lee als Zuniga und Johannes Strauß als Remendado, aber auch Marie-Dominique Ryckmanns als Frasquita und Daniela Vega als Mercédès profilieren. Toll der von Marco Zeiser Celesti Opern- und von Fiona Luisa einstudierte Kinder- und Jugendchor CANTAMUS. Der Beifall war einhellig – von denen die „nur“ zuschauten und von denen, die auch mitmachten. Die Raumbühne bleibt für das Kassler Publikum für eine ganze Reihe von Produktionen erst mal erhalten.
Staatstheater Kassel
Bizet: Carmen
Kiril Stankow (Leitung), Florian Lutz (Regie), Konrad Kästner, Christopher Fromm (Video-Regie), Sebastian Hannak (Bühne), Mechthild Feuerstein (Kostüme), Lara Belén Jackel (Mitarbeit Kostüm), Kornelius Paede (Dramaturgie), Marco Zeiser Celesti (Chor), Marie-Luise Fieker (Licht), Aldo di Toro, Filippo Bettoschi, Ilseyar Khayrullova, Margrethe Fredheim, Staatsorchester Kassel
Sa, 11. Januar 2025 19:00 Uhr
Musiktheater
Bizet: Carmen
Ilseyar Khayrullova (Carmen), Margrethe Fredheim (Micaëla), Aldo di Toro (Don José), Filippo Bettoschi (Escamillo), Daniela Vega (Mercédès), Kiril Stankow (Leitung), Florian Lutz (Regie)