Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Frauen-Schlachtfeld

Opern-Kritik: Landestheater Neustrelitz – Dornröschen

Frauen-Schlachtfeld

(Neustrelitz, 25.9.2021) Die Humperdinck-Renaissance jenseits des Dauerbrenners „Hänsel und Gretel“ nimmt zum 100. Todestag Fahrt auf: Jasmin Solfagharis bunter Bühnenzauber erobert das Publikum im Sturm.

vonRoland H. Dippel,

Manchmal haben Ausfälle eine gute Seite. Vor zehn Monaten musste das Landestheater Neustrelitz die Premiere von Engelbert Humperdincks Märchenspiel „Dornröschen“ wegen des zweiten Lockdowns absagen. Durch die Verschiebung kam es nun am 25. September 2021 zur ersten Vorstellung. In der Residenzstadt hatte der Komponist im dortigen Hotel Fürstenhof zwei Schlaganfälle erlitten und starb am 27. September 1921 im Krankenhaus Neustrelitz. Derzeit ist der Fürstenhof geschlossen. Eine Gedenktafel erinnert an den Komponisten, der mit „Hänsel und Gretel“ die international meistgespielte deutsche Oper komponiert hatte und dessen „Königskinder“ endlich wieder die verdiente Wertschätzung erfahren. Mecklenburg-Vorpommern feiert Humperdinck: Nach Festtagen mit Gunther Emmerlich und Christina Landshamer im Ostseebad Heringsdorf bringt jetzt das Theater Neustrelitz „Dornröschen“ mit Burgmauern und Traummaschinerie auf die volle Bühne. Die pausenlosen 85 Minuten sind im Nu vorbei. Der bunte Bühnenzauber erobert das Publikum im Sturm.

Alternative zu „Hänsel und Gretel“?

Irisierend leuchten die tellergroßen Augen des Springbrunnen-Frosches mit Breitmaul-Fontäne. Die Feen sind vom Chor getragene Puppen im Insekten-Look, und der Kinderwagen hat ein Kronen-Logo, das hinreichend über die Herkunft der süßen Säuglingslast informiert. Bei „Dornröschen“ explodierten Humperdincks Ansprüche betreffend Personal und Ausstattung. Das von ihm nach mehreren Änderungen vertonte Textbuch von Elisabeth Ebeling und Bertha Lehmann-Filhés enthält Inspirationen durch Novalis und Moritz von Schwind. Jasmin Solfaghari und Walter Schütze hatten ihren hintergründigen Spaß am Bebildern des Spiels und piksen nur manchmal belustigt in den am Frankfurter Opernhaus 1902 uraufgeführten Reimsalat über „die Jungfrau dort im Turmgemach“.

Szenenbild aus „Dornröschen“
Szenenbild aus „Dornröschen“

Auffallend, dass Humperdinck bei seinen drei bekannteren Märchenopern immer mit Librettistinnen zusammenarbeitete. Gegenüber dem neun Jahre älteren Märchenspiel „Hänsel und Gretel!“ hat „Dornröschen“ einen echten Vorteil. Denn da sind die Szenen und Musiknummern weitaus kürzer als das die Geduld kindlicher Zuschauer stark strapazierende Vorgeplänkel bis zum Auftritt der Knusperhexe Rosine Leckermaul.„Dornröschen“ ist auch längst nicht so traurig wie das grausame Sterben der „Königskinder“, Humperdincks Kunstmächen für Erwachsene..

Feerie mit Friedrichstadtpalast-Ambitionen

Für die vielen „Dornröschen“-Sprechverse griff die Regisseurin selbsthelfend zum Laptop. Sie reimte, korrigierte sensibel und besserte so manche für heutige Sprösslinge aus der Zeit gefallene Reimerei aus. Die vielen kurzen und langen Zwischenspiele bieten Anlässe zum Ausstellen von ganz viel Deko-Konfekt, und Walter Schütze zögerte nicht. Er kreierte eine Feerie mit Friedrichstadtpalast-Dimensionen und liefert Augenorgien durch Kostüme, von denen nur Dornröschens Erdbeer-Kleidchen ein bisschen nach Aschenputtel aussieht.

Szenenbild aus „Dornröschen“
Szenenbild aus „Dornröschen“

Die Prinzessin rappt bis zum enttäuschten Flunsch, als ihr der wenig zusagende Bräutigam präsentiert werden soll. Die Inszenierung springt mit elastischer Verspieltheit zwischen Pastell-Märchen und harter Fantasy: Beim Zweikampf des guten Prinzen gegen die böse Fee Dämonia fliegen nicht nur die Raben, sondern auch „StarWars“-Geschosse um den Burgturm.

Die Jagd nach dem Prinz

Königin Armgart (Grit Kolpatzik) und König Ringold (Markus Kopp) sind schon mit der diplomatischen Beschwichtigung ihrer schönsten Gegnerin Dämonia restlos überfordert. Und bei dem nerdigen vorgesehenen König Bräutigam würden nicht nur Röschen, sondern auch Prinzessinnen aller anderen Schichten in hundertjährigen Tiefschlaf flüchten. Andrés Felipe Orozco als Prinz Reinhold ist der textile Landlust auslebende Sympathieträger und durch Humperdincks Melodiensegen unverwundbar. Bei den Wagner-Reminiszenzen zeigt sich der Komponist trotzdem mehr von einer sehr fraulichen Seite. Sogar die böse Fee Dämonia verrät hinter der Zerstörungswut eifersüchtige Besessenheit und raspelt so viel Süßholz wie die Drei Damen in der „Zauberflöte“ mitsammen. Dämonias Jagd nach dem Prinz ist eine Jagd nach Liebe, die mit ihrem Untergang enden muss.

Szenenbild aus „Dornröschen“
Szenenbild aus „Dornröschen“

Echter Humperdinck

Und die Musik? Die Akustik des kleinen Neustrelitzer Theaters hat Tücken. Aber Daniel Klein findet unter der nicht immer optimalen Textverständlichkeit glücklich zum richtigen, aber durch üppige Zutaten manchmal gefährdeten Klangflair. Die Neubrandenburger Philharmonie ist bestens gerüstet mit flockenzarter Streicherdecke, Schwelgereien der Holzbläser, gekonnt maßhaltendem Blech und sanften Schläge der Pauken, die bei Humperdinck erstaunlich viel zu tun haben.

Unter Theaterleuten gilt „Dornröschen“ als schwierig, weil die etwas bekannteren Orchesterstücke eher gute Stimmung als dramatische Zündkraft haben. Die Collage-Haftigkeit der Partitur ist aber auch eine Chance. „Dornröschen“ hat von den drei Humperdinck-Märchenopern die längsten Chorpartien. Die Wechsel zu den Dialogpassagen fordern die Aufmerksamkeit von Kindern. Das Spielgeschehen vom Königshof über die Ahnengalerie, in der Prinz Reinhold beim Vogt des Ahnenschlosses (Ryszard Kalus) (Dorn-)Röschens Porträt sieht, zu den Sternen ist variantenreich. Die Prinzessin erhielt ein feines Solo, dann vor dem Stich an der Spindel eine tolle Ensemble-Nummer und als Steilvorlage zum Königskrönchen das den Geist der Frühromantik beschwörende Liebesduett mit Herzensprinz Reinhold. Trotzdem hat Marina Medvedeva in der Titelpartie nur vokale Kurzsprints gegenüber Iuliia Tarasova, die Dämonia als etwas tiefergelegene, aber nicht minder eisglitzernde Sopran-Alternative zur Königin der Nacht nützt. Im wohlklingenden Chor stellt Gotthard Franke die Männer fast immer in die hinteren Reihen. Das gibt zu denken: Trotz der lieblichen Musik sind auf den diplomatischen und echten Schlachtfeldern in Humperdincks „Dornröschen“ vor allem Frauen im Großeinsatz.

Landestheater Neustrelitz
Humperdinck: Dornröschen

Daniel Klein (Leitung), Jasmin Solfaghari (Regie), Walter Schütze (Bühne und Kostüme), Gotthard Franke (Chor), Lür Jaenike (Dramaturgie), Markus Kopp (Ringold), Grit Kolpatzik (Armgart), Marina Medvedeva (Röschen), Ramin Varzandeh (Tellermeister), Bernd Richert (Koch), Iuliia Tarasova (Dämonia), Andrés Felipe Orozco (Reinhold), Syrinx Jessen (Rosa/Die Sonne), Krzysztof Napierala (Bote/Gesandter der Strahleninseln), Ryszard Kalus (Der Vogt des Ahnenschlosses), Luise Hansen / Laura Scherwitzl (Morphina), Lothar Dreyer (Der Mond), Misun Kim (Quecksilber), Opernchor des Theaters Neustrelitz, Neubrandenburger Philharmonie

Auch interessant

Rezensionen

  • Dirigent, Konzertorganist und Cembalist Hansjörg Albrecht
    Blind gehört Hansjörg Albrecht – Bruckner-Spezial

    „Da ist solch eine Energie!“

    Hansjörg Albrecht hört und kommentiert Bruckner-Aufnahmen, ohne dass er weiß, wer spielt.

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!