Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Stachel der Erinnerung

Opern-Kritik: Musiktheater im Revier Gelsenkirchen – Die Passagierin

Stachel der Erinnerung

(Gelsenkirchen, 28.1.2017) Das Musiktheater im Revier hält ein kundiges Plädoyer für ein wesentliches Stück

vonAndreas Falentin,

Die Gelsenkirchener Inszenierung der „Passagierin“ ist erst die dritte an einem deutschen Theater nach der Uraufführung vor sechs Jahren bei den Bregenzer Festspielen. Dabei ist die in den 60er-Jahren entstandene Oper abseits ihrer bewegenden Geschichte und thematischen Relevanz vor allem in der Komposition von einer Qualität und Wirkungsmacht, die im zeitgenössischen Musiktheater nicht eben oft anzutreffen ist. Dem Musiktheater im Revier ist dafür zu danken, dass es dieses wichtige Werk seinem Publikum nicht vorenthält.

Starker Opern-Appell wider das Vergessen

Weinberg siedelt das dramatische Geschehen auf einem Schiff an. Walter und Lisa reisen im Jahr 1960 nach Brasilien, wo er eine Stellung im diplomatischen Dienst antreten soll. Auf dem Schiff meint Lisa in einer unbekannten Frau Marta zu erkennen, deren Aufseherin sie in Auschwitz war. Durch die Begegnung wird sie gezwungen, sich mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen, auch ihrem Mann davon zu erzählen. In Rückblenden wird die furchtbare Geschichte erzählt. Lisa will den Häftling Marta zu ihrer „Untertanin“ machen, zum Spitzel in der Häftlingsgruppe, Marta lehnt ab und sieht sich Lisas Rachedurst ausgesetzt, dem, mittelbar, unter anderem ihr gleichfalls inhaftierter Verlobter Thadeusz zum Opfer fällt. Die Oper endet mit einem Appell Martas, die Toten, die historischen Gräuel nicht zu vergessen.

Die Bar mit Wirtschaftswunderpatina simuliert Realismus

Hannah (Noriko Ogawa-Yatake), Marta (Ilia Papandreou), Lisa (Hanna Dóra Sturludóttir), Krystina (Anke Sieloff) © Forster

Gabriele Rech hat sich von Dirk Becker eine groß dimensionierte Bar mit Wirtschaftswunderpatina bauen lassen. Hier lernen wir Lisa und Walter kennen, hier wird mit ein wenig viel Dekoration Realismus simuliert. Fesselnd von Beginn an ist Kor-Jan Dusseljee. Sein heldisch angeschliffener, auch in der Expansion entspannt geführter Tenor ist das ideale Instrument, um einen eleganten Meister der Verdrängung vorzuführen, der geradezu nach Nachkriegszeit riecht. Hanna Dora Sturludóttir hat es da schwerer. Vor allem in Haarfarbe und Frisur ist sie arg nah am Nazi-Klischee gebaut, wirkt von Beginn an arrogant und unsympathisch. Die Inszenierung gestattet der Figur keine Fallhöhe, setzt Lisa hauptsächlich aus Posen zusammen, gewährt ihr keinen menschlichen Kern, bricht ihren Verdrängungsmechanismus nicht auf, lässt keinen Menschen sehen. Das fällt umso mehr auf, als die Partie der leidenschaftlich und sehr musikalisch gestaltenden Hanna Dora Sturludóttir ein wenig zu tief zu liegen scheint.

Gabriele Rechs Regie schafft die nötige Distanz zu den Geschehnissen

Nach Lisas Begegnung mit Marta wird die Schiffsbar zum KZ. Das vollzieht sich schlüssig, ohne Umbau, ohne Peinlichkeiten. Die Vermeidung der realistischen Sphäre hier ist die große Stärke von Gabriele Rechs Inszenierung. Sie schafft die nötige Distanz zu den Geschehnissen, sodass Raum entsteht für die Kraft des Gesanges, der vom wunderbar homogenen Ensemble des Musiktheaters im Revier in beeindruckender Weise genutzt wird. Überragend ist nicht nur hier Ilia Papandreou als Marta mit frei strömendem, sehr individuell gefärbtem und unglaublich konzentriert geführtem Sopran.

Kapellmeister Valtteri Rauhalammi meidet das konsumierbar Melancholische

Marta (Ilia Papandreou), Katja (Alfia Kamalova), Vlasta (Silvia Oehlschläger), Lisa (Hanna Dóra Sturludóttir) © Forster

Dazu bietet Valtteri Rauhalammi, der erste Kapellmeister des MIR, eine eigenständige Lesart der Partitur. Außer in den Zwischenspielen und den großen Bewusstseinschören meidet er jeden Mischklang. Stets sind die Einzelstimmen hörbar. Man muss sich die vielen Zitate und Andeutungen selbst zusammensetzen – von diversen bekannten Tänzen und Tanzrhythmen bis Berg, Britten und Schostakowitsch – und hört immer wieder Jazzanklänge. Vor allem aber vermeidet dieser Klang alles Weiche, konsumierbar Melancholische. Alle diese einzelnen Stimmen abstrahieren nicht nur das furchtbare Geschehen, sondern bohren sich ins Bewusstsein als Stimmen, besser noch: als Stachel der Erinnerung.

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Weinberg: Die Passagierin

Valtteri Rauhalammi (Leitung), Gabriele Rech (Regie), Dirk Becker (Bühne), Renee Listerdal (Kostüme), Alexander Eberle (Chor), Hanna Dóra Sturludóttir, Ilia Papandreou, Kor-Jan Dusseljee, Piotr Prochera, Alfia Kamalova, Anke Sieloff, Silvia Oelschläger, Noriko Ogawa-Yatake, Bele Kumberger, Almuth Herbst, Christa Platzer, Joachim Gabriel Maaß, Oliver Aigner, Tobias Glagau, Chor und Extrachor des MIR, Neue Philharmonie Westfalen

Auch interessant

Rezensionen

  • Tag 14
    Der Klingende Adventskalender: 14. Dezember 2024

    Tag 14

    Heute können Sie dank unseres Klingenden Adventskalenders wieder einen tollen Preis gewinnen. Können Sie unser Musikrätsel lösen? Probieren Sie es am besten gleich aus!

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!