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Opern-Kritik: Theater Bielefeld – Peter Grimes

Elementarereignis

(Bielefeld, 12.10.2025) Am Theater Bielefeld verlagert Regisseur Matthew Wild das Paar Benjamin Britten und Peter Pears schlüssig ins Geschehen von „Peter Grimes“. Auch musikalisch gerät die Premiere packend.

vonMichael Kaminski,

Der Tonsetzer und sein Lebensgefährte haben sich im Dorf angesiedelt. Britten firmiert unter Dr. Crabbe, dem Autor jener Versnovelle, die den Komponisten zum Werk inspirierte, Peter Pears unter dem Kapitän Balstrode. Das homophile Paar lebt seine Orientierung dezent und daher für die Dorfgemeinschaft ignorierbar aus. Hingegen droht die Gleichgeschlechtlichkeit des ungehobelten Peter Grimes offen an den Tag zu treten. Höchste Zeit, die von den beiden Honoratioren lange geübte Solidarität mit dem barschen Außenseiter aufzugeben und ihn zu beseitigen. Britten alias Crabbe und Pears alias Balstrode ersäufen den Fischer in dessen eigenem Kahn. Regisseur Matthew Wild fügt den Komponisten und den Mann an seiner Seite schlüssig ins Werk. Lange Jahre mussten beide auf Diskretion bedacht sein. Homosexualität stand auch im Vereinigten Königreich unter Strafe. Wild sieht in der Tabuisierung von Gleichgeschlechtlichkeit die Ursache für des Fischers Zurückgezogenheit und Schroffheit. Unter solchem Betracht gerät Grimes‘ Brutalität gegenüber den Lehrjungen zur Ersatzhandlung für sexuelles Begehren. Roman Hagenbrocks während der Sea Interludes auf den Vorhang projizierte Videos konfrontieren denn auch mit unterschiedlichen Versionen dessen, was sich auf dem Fischerkahn ereignet haben könnte. Unfälle hätten es sein können. Oder Totschlag, gar Mord an den sich der Zudringlichkeiten des Fischers erwehrenden Jungen.

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Szenenbild aus „Peter Grimes“ am Theater Bielefeld
Szenenbild aus „Peter Grimes“ am Theater Bielefeld

Geschlossene Gesellschaft

Spielleiter Wild beschönigt nichts, er gibt dennoch – und nicht allein im Geschehen auf See – jener Ambivalenz Raum, die das Wesen der Titelfigur ausmacht. Ob dem Undurchschaubaren Ellen Orford tatsächlich etwas bedeutet oder er sie lediglich als Alibi für die verkappte Gleichgeschlechtlichkeit und seinen Sadismus instrumentalisiert, bleibt offen. Am Tag jedoch und ehrlich ist des Fischers Sehnen nach innerem Frieden und stillem Glück. Alles dies weiß Wild ergreifend und das Gemüt erschütternd zu schildern. Trefflich implementiert er die Einzeltypen der Dorfgesellschaft von den Honoratioren bis zur puffmutterhaften Schankwirtin und deren Mitarbeiterinnen in riesenhafte optisch sinnfällige Tableaus. Connor Murphy ersinnt dafür einen mausgrauen Einheitsraum, dessen scheinbar undurchdringlich geschlossene Wände bisweilen überraschende Einblicke in Kirche und Kneipe gewähren. In der dörflichen Öde klafft mittig ein Spalt als Durchlass für einen schmalen Wassergraben, auf dem Grimes‘ Kahn neuer Fischzüge harrt. Murphy als sein eigener Kostümbildner steckt die Dörfler in sozial- und berufsspezifisches Heute vom Proletariat bis zur gehobenen Mittelschicht. Farbtupfer setzen Bardamen und junge Männer.

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Szenenbild aus „Peter Grimes“ am Theater Bielefeld
Szenenbild aus „Peter Grimes“ am Theater Bielefeld

Musikalisch überragend

Wie szenisch, so wissen die Bielefelder musikalisch zu packen. Chor und Extrachor des Hauses lassen sich unter Hagen Enke klangprächtig, fromm, ausgelassen und immer wieder bedrohlich vernehmen. Wenn die Leute beten oder feiern, kann das jederzeit in offene Gewaltbereitschaft umschlagen. Bielefelds neuer GMD Robin Davis entfesselt mit den städtischen Philharmonikern Stürme auf hoher See, in der Dorfgemeinschaft und Seele der Titelfigur. Die wenigen das Toben der Menschen und Elemente unterbrechenden Augenblicke des Innehaltens und der Besinnung musizieren Kapellmeister und Klangkörper berückend aus. Für die Titelpartie gebietet Nenad Čiča über erhebliche vokale Statur und das Spektrum zwischen Sehnsucht und Verzweiflung ausmessende Spitzentöne. Dušica Bijelić verkörpert eine grundsympathische, doch von Dörflern und Grimes gleichermaßen überforderte Ellen Orford. Bijelićs vokale Leidenschaft und Strahlkraft beglaubigen das menschliche Potential der allseits hintergangenen Lehrerin. Zu Čiča und Bijelić gesellt sich das bis in die kleinste Rolle überzeugende Riesenensemble.

Theater Bielefeld
Britten: Peter Grimes

Robin Davis (Leitung), Matthew Wild (Regie), Conor Murphy (Bühne & Kostüme), Carsten Lenauer (Licht), Roman Hagenbrock (Video), Nikos Fragkou (Movement Director), Hagen Enke (Chor), Nenad Čiča, Dušica Bijelić, Evgueniy Alexiev, Dalia Schaechter , Mayan Goldenfeld, Cornelie Isenbürger, Lorin Wey, Bryan Boyce, Marta Wryk, Andrei Skliarenko, Todd Boyce, Moon Soo Park, Roland Kansteiner, Sharjil Khawaja, Nikos Fragkou, Kristoffer Fillies, Cedric Niebrügge, Paata Tsivtsivadze, Daniel Alejandro Cobos Ortiz, Vladimir Lortkipanidze / Yevhenii Vaskiv, Annemarie Vergoosen,  Bielefelder Philharmoniker, Bielefelder Opernchor & Extrachor






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