Sie marschieren geradewegs in Reih und Glied aus dem Gewitterhimmel ins Wasser – und damit in den eigenen Untergang, wörtlich wie im übertragenen Sinne: Die versteinert maskenhaft dreinblickenden Krieger des alten China, Wiedergeburten jener Terrakotta-Armee, die erst 1974 in der Grabanlage des Kaisers Qin Shi Huangdi entdeckt wurde. Unbesiegbar sollten sie sein, dem Herrscher über ein Weltreich ewige Macht nach seinem Tode sichern.
Fantastisches Licht
Marco-Arturo Marelli wählt die perfekt nachgebildeten – und von Davy Cunningham in fantastisches stimmungsstarkes Licht getauchten – Krieger als Signet seiner Inszenierung der Turandot, Puccinis letzter, unvollendeter Oper über die chinesische Prinzessin, deren frauliche Gefühle zu Eis erstarrt sind: Sie identifiziert sich mit dem Unglück einer vor Urzeiten geschändeten und von einem Fremden getöteten Ahnin, deren Schicksal sie auf keinen Fall teilen will.
Die chinesische Mauer beherrscht Alles und Alle
Als Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion setzt Marelli deutliche Zeichen der brutalen männlichen Macht, gegen die private Glückshoffnungen so gar keine Chance auf Verwirklichung haben. Was zählt schon das Individuum in einem System, das auf kollektives Funktionieren von Massenmenschen baut? Und so schlängelt sich auf dem Bodensee denn auch gleich einem bedrohlichen Drachen des fernen Osten die chinesische Mauer über stolze 72 Meter Bühnenbreite. Zu den energischen ersten Takten der Oper stürzt die Mitte der Mauer sogleich spektakelkrachend ein: Marelli bedient damit nicht einfach nur die Erwartungen an die große, zwingend augenprächtige Seebühnenproduktion der Bregenzer Festspiele, die in diesem Jahr wie dann auch im Sommer 2016 insgesamt bis zu 400.000 Menschen anziehen soll. Er macht auch unmissverständlich deutlich, welch einem menschenverachtenden Apparat die potentielle Liebe von Turandot und Calaf ausgesetzt ist. Schon rein visuell scheint die alles und alle beherrschende Mauer die klein und hilflos werdenden Figuren gleichsam zu schlucken.
Graumausige Mao-Menschen
Als graumausig angestaubte Einheitsmenschen im Gleichschritt tritt dann sogleich das chinesische Volk auf den Plan. Die pittureske historische Ebene der Terrakotta-Krieger weitet sich im Bühnengeschehen in die jüngere Vergangenheit des Reiches der Mitte. Denn dieser Chor besteht aus Maos Mannen. Geschichte wiederholt sich eben, auch wenn sich die Uniformen mal ändern. Diese Zeitsprung aus der Antike ins massenmörderische China des Kommunismus fügt Marelli eine dritte Ebene hinzu, jene des Komponisten zur Entstehungszeit der Oper. Diese leider schon zur abgestandenen Attitüde des Regietheaters verkommene Ansatz, Biographie und Werk parallel zu setzen, macht beim fast immer persönlich Erlebtes und Erlittenes künstlerisch aufarbeitenden Richard Wagner durchaus oft Sinn, bei Puccini kann sich der Regisseur immerhin auch auf einen schockierenden Fall im Leben des Komponisten berufen: Seine ihn nach einem Unfall umsorgende Hausangestellte rief die bittere Eifersucht seiner Ehefrau hervor: Die Pflegerin beginn daraufhin Selbstmord. Die Figur der selbstlos liebenden Sklavin Liù, die sich für ihren Herrn opfert und zur wirklichen tragischen Figur der Oper wird, war damit biographisch vorgebildet.
Nebenschauplatz „Komponierzimmer“
Zum Nebenschauplatz wird in Bregenz deshalb das Komponier- und gleichzeitige Krankenzimmer Puccinis. Der unbekannte Prinz ist somit nicht einfach Calaf, sondern Puccini zugleich. Zu seiner durch Pavarotti zum Welthit avancierten Arie „Nessun dorma“ singt er am eigenen Krankenbett – mit dem Klavierauszug des eigenen Schwanengesangs in der Hand, Pflegerin Liù schaut ihm dabei Anteil nehmend zu. Als Calaf-Puccini später von der Heirat mit Turandot durch das Angebot williger Sexsklavinnen abgehalten werden soll, treten zugleich Society-Ladies des frühen 20. Jahrhunderts in Puccinis Heim: Er wolle aber gar keinen Reichtum singt der Tenor. Eine schöne, textlich treffende Pointe.
Bodenseespektakel mit Regietheater-Ambition
Gelingt in Bregenz also eine das Auge kitzelnde Open-Air-Oper mit gleichzeitiger staatstheatralischer Regietheater-Ambition? Elisabeth Sobotka, die neue Intendantin der Festspiele, setzt darauf, das populär Unterhaltende mit dem anspruchsvoll Exzeptionellen zu versöhnen. Und in gewisser Weise schafft diese Turandot die künstlerische Quadratur des Kreises. Fahnenschwinger, Feuer-Jongleure, Kampfkünstler und viele andere Spektakel-Zutaten sorgen für das Alle und Jeden befriedigende Opern-Event. Und dramaturgisch klug Gedachtes macht die Inszenierung gleichsam feuilleton-kompatibel. Das Gigantische trifft auf das Kammerspiel-Intime. Bilder-Überwältigung auf die Psychologie der Personenregie. So weit so gut.
Regisseur und Bühnenbildner in Personalunion stehen sich selbst im Weg
Immer wieder ist da freilich auch einige Inkonsequenz am Werk, interessante Ansätze wie die Puccini-Biographik oder der Machtmissbrauch werden regielich angerissen bzw. bildlich behauptet, dann aber nicht weitererzählt. Mitunter sind sich da auch die Ambitionen des auf große Bilder bauenden Bühnenbildners Marelli und des auf Intimität vertrauenden Regisseurs Marelli im Weg. Hinzu kommt: Den Erzählstrang um Puccinis Leben haben selbst manche Kritikerkollegen kaum nachvollziehen können. Und: Die teils grässlichen Videos, die auf die multipel bewegliche zentrale Spielfläche einer Star Trek-Scheibe projiziert werden, lenken vom Geschehen der Figuren mehr ab, als sie Erhellendes beisteuern würden. Inszenatorisches Nachsteuern und im Zweifel auch das gezielte Weglassen im Sinne eines „Weniger ist Mehr“ können diese Turandot im nächsten Jahr indes problemlos zu einer vollends runden Produktion machen.
Musikalische Feinheit und gutes Ensemble
Musikalisch läuft der Abend ohnehin rund. Paolo Carignani betont am Pult der Wiener Symphoniker gar nicht das pentatonisch Protzende, den Wumm, das staatstragend Überwältigende der Partitur. Er setzt, die das Richtungshören ermöglichende sehr differenzierte akustische Verstärkung hilft dabei, stark auf Puccinis impressionistische Zwischentöne, beglaubigt so die Konzentration auf Zwischenmenschliches seitens des Regisseurs. Das gut besetzte Ensemble wird angeführt von der lyrisch großen, mittellagig dunkel timbrierten Liù der Guanqun Yu. Dagegen ist Mlada Khudoley in der Titelpartie keine trompetentönende echte Hochdramatische, sie hat gleichwohl Mut zur scharfen Textattacke und spitzen Charakterisierung. Riccardo Massi hingegen ist ein Mezza Voce-weicher, mal gar nicht heldentenorhämmernder Calaf mit leichter Höhe, er macht die Figur so ungleich sympathischer als üblich. Michael Ryssov ist ein bass-schwarz intensiver Vater Timur.
Puccini: Turandot
Ausführende: Paolo Carignani (Leitung), Marco-Arturo Marelli (Regie & Bühne), Constance Hoffman (Kostüme), Davy Cunningham (Licht), Olaf A. Schmitt (Dramaturgie), Mlada Khudoley, Riccardo Massi, Guanqun Yu, Guanqun Yu, Michael Ryssov, Wiener Symphoniker, Prager Philharmonischer Chor