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Opern-Kritik: Oper Frankfurt – Die Passagierin

Wider das Vergessen

(Frankfurt/Main, 1.3.2015) Deutsche Zeitgeschichte als Musiktheater: Mieczysław Weinbergs berührendes Opus Magnum

vonAndreas Falentin,

Die Uraufführung, 2010 bei den Bregenzer Festspielen, war eine der größten Sensationen der Opernwelt im 21. Jahrhundert und führte zu einer veritablen Weinberg-Renaissance. Plötzlich wurden seine Opern aufgeführt, seine Sinfonie und seine Kammermusik eingespielt. Das Besondere an der 1969 fertig gestellten Passagierin ist zweifellos die Verbindung eines zeitgeschichtlichen und gleichzeitig zeitlos relevanten Stoffes mit einer eigenständigen und dabei sehr theateraffinen Tonsprache. Dennoch ist die Oper Frankfurt erst das zweite deutsche Haus, nach Karlsruhe, das Weinbergs – nach eigener Aussage  –  Opus Magnum zur Diskussion stellt. Grund dafür mag, neben den beträchtlichen Anforderungen an ein großes Sängerensemble, gerade in Deutschland die Frage sein, inwiefern man ein NS-Konzentrationslager überhaupt auf einer Bühne zeigen kann oder darf.

Darf man ein NS-Konzentrationslager auf der Opernbühne zeigen?

Die ehemalige KZ-Aufseherin und jetzige Diplomatengattin Lisa glaubt während der Schiffsüberfahrt nach Rio in einer schönen Passagierin Marta zu erkennen, eine junge, im KZ inhaftierte Polin. Die Begegnung konfrontiert Lisa mit ihrer Vergangenheit, der sie nicht entkommen kann, weil sie nicht in der Lage ist, für ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen. Im Laufe der von Rückblenden dominierten Handlung verschiebt sich der Fokus immer stärker zu Marta, ihren Überlebenswillen und ihren Kampf wider das Vergessen.

Anselm Weber inszeniert so konkret wie nötig und so abstrahierend wie möglich

In Katja Haß’ klar strukturiertem Bühnenbild – angedeutete Schiffsaußenwände, zwischen denen mit Hilfe der Drehbühne das KZ imaginiert wird – versucht Anselm Weber erfolgreich, so konkret wie nötig, so distanziert und abstrahierend wie möglich zu arbeiten. Behutsam verzahnt er die Zeit- und Handlungsebenen, lässt sie sich überlagern, zum Ende hin gar ineinanderfließen. Sein entscheidender Partner hierbei ist die Musik, die vordergründig Distanz schafft und dennoch Nähe, Dringlichkeit herstellt.

Eigenständige Nähe zu Schostakowitsch und Britten

Weinbergs ungeheuer vielfältige Partitur ist von seltener Geschlossenheit, genuin postmoderne Musik des 20. Jahrhunderts mit romantischen Wurzeln, filigraner als sein Freund und Mentor Schostakowitsch, exaltierter als Britten, beiden oft auf seltsam eigenständige Weise nah. Bemerkenswert der Einsatz der vielen Solo-Instrumente von Klarinette bis Marimbaphon, spektakulär die Verwendung von leeren Quinten und Tritonus als Weg in die ungebundene Tonalität. Dabei ist diese Musik nie schroff oder süßlich und scheut sich dennoch nicht vor ariosen oder liedhaften Passagen.

Vom Lebenswillen und der Sehnsucht, verantwortlich zu handeln

Einzig im zweiten Bild, der ersten großen KZ-Szene, erstarrt Webers handwerklich so überaus souveräne Inszenierung, setzt sie dem treffsicheren, lapidaren Text zu wenig Struktur entgegen und gerät momentweise auf jene schlichte Betroffenheitsebene, an der dem Komponisten mit Sicherheit wenig gelegen war. Aber das sind eben nur Momente. Als Ganzes betrachtet erzählt dieser Abend intensiv vom Menschen, seinem Lebenswillen und der immerwährenden Sehnsucht, gut zu sein und verantwortlich zu handeln – und unvergesslich vom dunkelsten Kapitel

deutscher Geschichte.

Ein seelenvoll gesungener und musizierter Abend

Musikalisch stimmt alles. Ein perfekt und seelenvoll gesungener und musizierter Abend, mit Mut zum Leise-Sein, zur Stille geleitet vom jungen Karlsruher Kapellmeister Christoph Gedschold. Tanja Ariane Baumgartner denunziert Lisas inwendige Hässlichkeit an keiner Stelle, schenkt ihr auch keine Dämonie, hält die Figur, fast sachlich, jederzeit in der Schwebe. Martas Qualen und Sehnsüchte zeigt Sara Jakubiak einzig mit immer wieder aufblühendem, individuell timbriertem Sopran. Ihr Spiel dagegen ist zurückhaltend, mit fast verstohlener Gestik, dominiert von Angst und Lebenswillen. Auch in den vielen kleineren, oft exponierten Gesangs- und Sprechrollen und im stark geforderten Chor wird auf demselben hohen Niveau gearbeitet.

Oper Frankfurt

Weinberg: Die Passagierin

Christoph Gedschold (Leitung), Anselm Weber (Regie), Katja Haß (Bühne), Bettina Walter (Kostüme), Tilman Michael (Chor), Tanja Ariane Baumgartner, Sara Jakubiak, Peter Marsh, Brian Mulligan, Anna Ryberg, Maria Pantiukhova; Jenny Carlstedt, Judita Nagyova, Nora Friedrichs, Joanna Krasuska-Motulewicz, Barbara Zechmeister, Dietrich Volle, Magnus Baldvinsson, Hans-Jürgen Lazar, Michael McCown, Thomas Faulkner, Margit Neubauer, Friederike Schreiber, Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Chor der Oper Frankfurt

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