Wer dem Pianisten Jean-Yves Thibaudet begegnet, ohne ihn je spielen gehört zu haben, macht sich leicht ein falsches Bild. Vor einigen Jahren hatten wir uns für ein Interview in Baden-Baden verabredet, in der Lobby des besten Hotels der Stadt. Es war der Morgen nach einem gefeierten Konzert im Festspielhaus. Gerade war Star-Dirigent James Levine durch die Halle geschlichen, hatte das überschwängliche Kompliment einer älteren Dame etwas hilflos über sich ergehen lassen und war still im Fahrstuhl verschwunden, als sich der zweite Fahrstuhl öffnete. Und heraus trat – wie aus dem Ei gepellt – Jean-Yves Thibaudet: Leinenschuhe, weiße Stoffhose, hellblau-weiß-gestreiftes Hemd, knallrote Sonnenbrille, gegeltes Haar, Schmuck an Hals und Händen. Und als die ältere Dame mit exakt den gleichen euphorischen Worten auf ihn zuschießt, strahlt er sie an und nimmt sich Zeit für einen Plausch.
Ein paar Jahre später in einem anderen Hotel trat er mir wieder in dandyhaftem Outfit, mit Sonnenbrille und qualmender Zigarette entgegen. Den Mienen der Umstehenden war anzusehen, dass sie angestrengt überlegten, wer denn dieser Rockstar wohl sei.
Kein Zweifel, Jean-Yves Thibaudet genießt den Auftritt. Doch der Sohn eines französischen Vaters und einer deutschen Mutter, Jahrgang 1961, ist alles andere als ein Blender. Hohe Anschlagskultur, Farbenreichtum und perlende Virtuosität kennzeichnen sein Spiel, doch ebenso fesseln die Eleganz und Poesie seiner Deutungen. Das einstige Wunderkind, das mit neun Jahren Ravels G-Dur-Konzert aufführte, gehört längst zur Crème de la crème seiner Zunft.
Im Gespräch beim Tee oder einer Cola entpuppt sich der Kettenraucher, der seine Sonnenbrille dann sofort abnimmt, als freundlicher Gesprächspartner, der schnell, konzentriert und mit Begeisterung von seinem Beruf und seiner Musik spricht.
Thibaudet ist ein Mann, der stets neugierig ist auf neue Erfahrungen, Abenteuer und Entdeckungen. In den 90ern spielte er den Konzertpianisten in Giordanos Fedora auf der Bühne der New Yorker Met, für zwei Hollywood-Produktionen lieferte er den Soundtrack und stand kurz vor der Kamera. Er liebt Jazz („Das ist ein ganz anderes Spielen, aber ich lerne viel daraus, es hilft mir mich zu entwickeln.“), macht Kammermusik und genießt es, mit Sängern zu arbeiten, mit Cecilia Bartoli zum Beispiel oder Renée Fleming. „Ich habe vieles von ihnen gelernt, über das Atmen, über Legato, übers Phrasieren. Wenn die Zuschauer mich als Begleiter sehen, macht mir das nichts aus. Denn es ist echtes Teamwork, und ich habe meinen Spaß dabei.“
Sein Repertoire erstreckt sich von der Klassik bis zu den Zeitgenossen, vom virtuosen „Rach 3“ und Strauss‘ selten gespielter Burleske, einem seiner Lieblingsstücke, bis zu den intimen Miniaturen eines Chopin oder Satie, dessen Gesamtwerk er vor Jahren aufgenommen hat – inklusive einigen Ersteinspielungen. Ein möglichst breites Repertoire zu haben, war jedoch nie sein Ziel. „Mein Fokus liegt auf den großen romantischen Werken – inklusive den Impressionisten“, sagt er. „Die liebe ich. Ich habe über meine Lehrerin eine spezielle Beziehung zu Ravel. Sie war eine Schülerin und Freundin von ihm.“
Die Arbeit mit Lucette Descaves hat auch Thibaudets Verständnis von Werktreue geprägt. „Sie hatte Ravels Noten mit all seinen Anmerkungen. Ich habe in meinen Noten haufenweise Anmerkungen, die direkt von Ravel stammen. Wie das Orchester klingen soll, wo er Pedal haben wollte und wo nicht. All das muss man respektieren, sonst sollte man diese Musik nicht spielen. Aber dann muss man sie im zweiten Schritt zu seiner eigenen Musik machen. Generell glaube ich, für jedes Stück gibt es ein ideales Tempo, wo alles plötzlich Sinn macht. Das ist wie mit einer Kamera, man dreht am Objektiv, alles ist verschwommen, und dann kommt plötzlich der Punkt, wo der Fokus klar ist. Das gleiche gilt für die Musik. Das ist manchmal schwierig. Aber eines Tages merkt man, dass es ein Tempo gibt, wo alles an seinen richtigen Platz rückt, wo alles Sinn macht.“
Doch dieses Gefühl ist sehr subjektiv: „Das macht einen großen Interpreten aus. Man geht ins Konzert, hört jemanden spielen und denkt, es gibt keinen anderen Weg, das ist es. Und dann hört man einen anderen und denkt dasselbe. So sollte man Musik spielen und präsentieren. Musik ist etwas sehr Persönliches. Man muss das tun, was man selbst fühlt und wobei man sich wohl fühlt.“
Auch die deutsche Romantik ist Thibaudet, der in Lyon geboren wurde und mit zwölf nach Paris ging, sehr nah. „Ich bin Franzose. Aber ich bin auch halb deutsch, ich war als Kind oft bei meinen Großeltern in Bielefeld. Ich spiele sehr oft die deutschen Romantiker. Ich glaube, man hat bestimmte Dinge im Blut, die vererbt werden. Ich habe zum Glück nie dagegen ankämpfen müssen, dass ich als französischer Pianist aufs französische Repertoire festgelegt werde. Das habe ich ganz früh klar gemacht.“
Auf Konzertreisen wird Thibaudet dann vermutlich mit seinem neuesten Auto durch Deutschland brausen, vielleicht einem Maserati oder Ferrari. „Ich wechsle jedes Jahr, Autofahren ist die beste Entspannung für mich. Leider habe ich in Paris nur zwei Stellplätze.“ Ein Glück, dass er seinen Hauptwohnsitz in Los Angeles hat. „Da ist das Wetter wesentlich besser. Und ich habe mehr Platz für meine Autos.“