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Feature: Knabenchöre zwischen Kontinuität und Wandel

Zu schätzen wissen, was verloren schien

Nach dem Streit um die Aufnahme von Mädchen und dem vorläufigen Abklingen der Corona-Pandemie finden die Knabenchöre wieder in den Alltag – und erleben eine Überraschung, die eigentlich keine ist.

vonChristian Schmidt,

Kunstfreiheit versus Ungleichbehandlung: Nein, es geht nicht um diskriminierende Traditionen, wenn ein Knabenchor einem Mädchen die Aufnahme verweigert, sondern das Ensemble muss über seinen Klang selbst bestimmen dürfen. Mit diesem höchstrichterlichen Urteil setzte das Bundesverwaltungsgericht den Schlusspunkt unter einen jahrelangen Zoff, den die Anwältin und Gleichstellungskämpferin Susanne Bräcklein mit mehreren Knabenchören in Vertretung ihrer Tochter geführt hatte.

Den Rechtsstreit, im Zuge dessen sie sich medial hoher Aufmerksamkeit sicher sein konnte, hatte Bräcklein über mehrere Instanzen bis nach Leipzig ausgefochten: Nun beschieden die Bundesverwaltungsrichter jedoch endgültig, dass es das „verfassungsrechtlich geschützte Kulturgut des Klangraums eines Knabenchores“ legitimiere, einem Mädchen die Aufnahme zu verwehren.

So aberwitzig die Diskussion auch auf den ersten Blick wirken mochte, so heilsam war sie doch für die hie und da aufflammende Diskussion um das Selbstverständnis der Knabenchöre, die in modernen Zeiten manchen so anachronistisch schienen. Denn einig waren sich ja letztlich alle: Mädchen müssen die gleichen Bildungschancen auch im musikalischen Sektor haben.

Während bei den Wiener Sängerknaben schon seit einigen Jahren ein Mädchenchor existiert, der eigenständig konzertiert und tourt, folgen ab dem kommenden Schuljahr auch die Regensburger Domspatzen diesem Vorbild. Gemischt mit den Jungs werden sie auch hier nicht. Aber das Interesse ist riesig, wie man hört, und so können die Bayern en passant auch das wirtschaftliche Problem lösen, ihren riesigen Schulneubau für ihre „Spatzen“ besser auszulasten.

Denn allüberall gibt es nicht genug männlichen Nachwuchs. Mag das in Regensburg auch der anhaltenden Diskussion über Jahrzehnte zurückliegende Missbrauchsfälle geschuldet sein – das Problem dieser Tage ist hochaktuell und liegt viel tiefer. Denn die Corona-Pandemie war eine schmerzhafte Zäsur für alle großen Knabenchöre. Wer wie sie darauf angewiesen ist, sich jedes Jahr aufs Neue zu verjüngen, weil die erfahrenen älteren Sänger mit ihren Männerstimmen in die weite Welt hinausgehen, muss beständig für Nachwuchs bei den jungen Knaben sorgen, die dann ihrerseits irgendwann in den Stimmbruch kommen und nach acht, neun oder zehn Jahren die Tür wieder hinter sich schließen.

Im schlimmsten Fall fehlen zwei Generationen von Sängern

Wenn man dann nicht in den Grundschulen „angeln“ gehen kann, weil sie geschlossen sind oder im Homeschooling arbeiten, fehlen im schlimmsten Falle zwei Generationen von Sängern. Das Problem haben zwar viele, weil das Singen in den Schulen – ohnehin schon wegen fehlender Kapazitäten jahrelang auf dem Abstellgleis – als Infektionstreiber galt. Doch bei den Knabenchören ist die Situation zusätzlich prekär, weil sie traditionell einen professionellen künstlerischen Anspruch pflegen und darauf angewiesen sind, dass die alten Hasen den Chornachwuchs ins Repertoire einarbeiten, das mangels Proben nun teilweise völlig neu aufgebaut werden muss.

Doch mit dem Abklingen der Pandemie haben sich die Internate und Probensäle unterschiedlich schnell wieder gefüllt, kehrten die Knaben und jungen Männer in ihre teils noch ungewohnte Umgebung zurück. Bei den großen sächsischen Chören in Leipzig und Dresden wurden über Online-Nachwuchstage zumindest so viele Sänger akquiriert, dass die Klassen gefüllt werden konnten, obwohl die immens wichtige Motivation gemeinsamer Auftritte fehlte.

Ludwig Böhme wird neuer Chorleiter des Windsbacher Knabenchors
Ludwig Böhme wird neuer Chorleiter des Windsbacher Knabenchors

Beim Windsbacher Knabenchor dagegen wird in der mittelfränkischen Idylle noch um eine große 5. Klasse gerungen: „Als ländliches Internat sind wir auf Nachwuchssänger aus der Umgebung angewiesen. Und erschwerend kam sicherlich hinzu, dass die Nachfolge für mich noch unklar war“, sagt der scheidende Chorleiter Martin Lehmann. Er beerbt zum neuen Schuljahr in Dresden den amtierenden Kreuzkantor Roderich Kreile, der sich dieser Tage in den Ruhestand verabschiedet.

Doch das ist nicht der einzige Wechsel an den Spitzen der Traditionschöre: Auf Lehmann, der selbst im Dresdner Kreuzchor seine Laufbahn begann, folgt der Ex-Thomaner Ludwig Böhme, der in Leipzig nicht nur Primarius des international erfolgreichen Calmus-Ensembles war, sondern auch selbst zwei renommierte Chöre leitete. Entsprechend hoffnungsvoll ist der 43-Jährige bezüglich der Nachwuchssituation in Windsbach, die ihn ab diesem Sommer erwartet: „Es waren zwei verlorene Jahre, ja. Aber warum sollte nicht wieder zu erreichen sein, was bis zur Pandemie erreicht werden konnte?“ Dabei sieht Böhme gerade in der auf Außenstehende vielleicht anachronistisch wirkenden traditionellen Chorgemeinschaft in einem reinen Jungeninternat das größte Pfund: „In unserer schnelllebigen Gesellschaft wird Kontinuität ganz universell unterschätzt. Es ist eine Qualität, lange miteinander durch Dick und Dünn zu gehen.“

Mögen Knabenchöre ihre magische Anziehungskraft auf das Publikum aus ihrem besonderen Klang entwickeln, wirken sie auf die Jungs selbst vor allem wegen ihrer ganz eigenen inneren Bindekraft: Der soziale Aspekt der Vorbildwirkung und Familiarität ist von nachgerade existenzieller Bedeutung. Denn erst im Knabenchor trauen sich viele Jungen das Singen wirklich zu. Konnten sie nun nicht mal mehr proben, zusammen essen, sich im Chorgefüge treffen, drohten nicht nur die musikalischen Fähigkeiten zu leiden, sondern auch Rituale und Freundschaften zusammenzubrechen. Damit stand auch ein großer Teil jugendlicher Musizierlust in Frage. In vorsichtiger Rückschau wirkt allzu große Sorge jedoch unbegründet: „Die Lust aufs Singen ist durch die Pause eher größer geworden“, formuliert es Jens Bauditz, Leiter des Neuen Knabenchores Hamburg. Eigentlich ist das auch keine Überraschung. Denn gemeinhin schätzt man ja immer dann etwas ganz besonders, wenn es verloren schien.

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