Opern, die auf großen literarischen Vorlagen beruhen, gibt es reichlich. Wenn Theaterstücke von Schiller oder Shakespeare zu Libretti umgestaltet werden, ist der Erfolg aber nicht immer garantiert. Das musste auch Leonard Bernstein erfahren, als seine zweiaktige Operette „Candide“ 1956 am Broadway floppte. Der Bühnentext von Lillian Hellmann wurde seiner Vorlage – der gleichnamigen Novelle von Voltaire aus dem Jahr 1759 – nicht gerecht.
Wenn die Musik schweigt, klingt die Sprache
Man kann verstehen, was Bernstein an Voltaires Satire „Candide“ faszinierte, bot sie doch eine hoch kreative und in ihrer Unverfrorenheit äußerst unterhaltsame Stellungnahme zu Leibniz’ Postulat, wir Menschen lebten in der besten aller möglichen Welten. Angesichts der Katastrophe des Erdbebens von Lissabon, bei dem 1755 mindestens 30.000 Menschen ums Leben kamen, zeigte Voltaire, auf welch groteske Weise der Mensch dem Schicksal, dem Zufall und seinesgleichen ausgeliefert ist.
Fest vom Potenzial seines Bühnenwerkes überzeugt, ließ Bernstein es 1974 zu einem einaktigen Musical umarbeiten und von Hugh Wheeler ein komplett neues Libretto schreiben. In dieser Fassung schaffte „Candide“ den internationalen Durchbruch. Weil die eigentliche Handlung auf Erzählpassagen zwischen den Musiknummern zusammengedrängt ist, erfährt Wheelers Text eine große Aufmerksamkeit. Er ist von einer solchen Dichte, derart gekonntem Witz und einer rhetorischen Präzision, dass dieser allein schon den Besuch einer Vorstellung wert ist.
Seichte Gefühlswellen, hochdramatisch aufgeschäumt – Bernsteins „Candide“
In seiner Musik griff Bernstein auf das Erbe der europäischen Opernkultur sowie auf Jazz-Elemente zurück und schuf durchweg anspruchsvolle Gesangspartien. Das Zusammenspiel mit dem Text ist geradezu verblüffend – Bernstein leuchtet jede kleinste Wortphrase aus und fügt der Sprache eine weitere Deutungsebene hinzu. Eine Leistung, die an Otto Nicolai, den Schöpfer der „Lustigen Weiber von Windsor“, erinnert. Mal parodiert Bernstein, indem er heuchlerische Selbstdarstellung durch Überzeichnung als solche entlarvt, mal nimmt er unreflektierte Äußerungen musikalisch ganz ernst, um das Ausmaß der Naivität zu zeigen, dann wieder unterlegt er seichte Gefühlswelten mit hochdramatischen Melodien, um einen Selbstbetrug klanglich zu unterstreichen.
Man denke an die bekannte Arie „Glitter and be gay“. Kunigunde beklagt hier den Verlust ihrer Ehre und will diesen Makel kompensieren, indem sie sich mit Diamanten und Perlen schmückt. Zuerst versucht sie sich mit künstlichem Gekicher Mut anzusingen, dann posaunt sie heraus, dass das Lebensglück doch nur vom Luxus abhänge. Mit ihrem Lachen in völlig überdrehten Koloraturen stellt Bernstein Kunigundes Hysterie bloß.
Zeitlos zeitbezogen
Die zeitliche Nähe der Entstehung des Werkes zur Katastrophe des Holocaust ist sicher kein Zufall. In den 1950er Jahren waren die Erinnerungen an die Schrecken der Naziherrschaft, die Leibnitz’ “beste aller möglichen Welten” in ein brandgefährliches Tollhaus verwandelte, noch sehr präsent. Voltaires „Candide“ entsprechend von besonderer Brisanz. Dennoch ist Bernsteins Musical auch als zeitloser Kommentar zum Wesen des Menschen und zum Leben auf dieser Welt zu verstehen. Darüber hinaus ist seine Musik von ungeheurer Brillanz und überaus unterhaltsam. Höchste Zeit also, das Werk in den Spielplänen gebührend zu berücksichtigen. Wenn „Candide“ anlässlich des Bernstein-Jubiläums auf vielen Bühnen zu erleben ist, sollte man sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Die wichtigsten Fakten zu Leonard Bernsteins „Candide“:
Besetzung: Baron und Baroness von Thunder-Ten-Tronckh (Sprechrollen), Maximilian, Sohn des Barons (Bariton); Kunigunde, Tochter des Barons (Sopran); Candide, außerehelicher Sohn des Barons (Tenor); Paquette, Dienstmädchen des Barons (Sopran), Eine alte Dame, Gesellschafterin (Mezzosopran); Dr. Pangloss, Lehrer und Optimist (Sprechrolle); Der Kapitan der M.S. Bernstein (Sprechrolle), Ein strenggläubiger Lissaboner (Sprechrolle); Der Erzbischof von Paris (Sprechrolle); Ein jüdischer Bankier (Sprechrolle); Der Neger Cacambo (Sprechrolle); Der Gouverneur von Buenos Aires (Sprechrolle); Kaufmann Vanderdendur (Sprechrolle); Ein Galeerenkapitän (Sprechrolle); Ein Weiser vom Hymalaia (Sprechrolle), Bulgarische und westfälische Offiziere und Soldaten, Bürger von Lissabon und Cartagena, Jesuiten, Venezianisches Volk, Spieler, Tänzer, Krankenschwestern, Dienerschaft, Sklaven, alle möglichen Völker
Orchesterbesetzung: Pikkoloflöte, zwei Flöten, Oboe, Oboe d’amore, drei Klarinetten, Bassklarinette, Fagott, Englischhorn, Trompete (auch Flügelhorn), Posaune, Keyboard, Schlagzeug, Streicher
Aufführungsdauer: 2 Stunden
Uraufführung: Die erste Fassung wurde am 1. Dezember 1956 am Martin Beck Theatre in New York uraufgeführt
Referenzeispielung
Bernstein: Candide
Jerry Hadley, June Anderson, Christa Ludwig, Adolph Green, Nicolai Gedda, Della Jones, London Symphony Orchestra, Leonard Bernstein (Leitung)
Deutsche Grammophon
Ein Komponist ist nicht zwangsläufig der beste denkbare Interpret seiner Werke. In dieser Einspielung entfaltet sich Leonard Bernsteins doppelte Begabung aber zu voller Blüte. Die Mitwirkenden zeige das große Potenzial des Werkes mit ihren hervorragenden deklamatorischen Leistungen und sensibler Ausgestaltung der musikalischen Intonation auf. Auch der Chor, der in den großen Volksszenen zum Einsatz kommt, überzeugt in seiner massendynamischen Ausprägung voll und ganz.