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Countertenor Philippe Jaroussky im Interview

„Ich gehöre der Generation Konzeptalbum an“

Countertenor Philippe Jaroussky über den Reiz von Rezitativen, Regisseure als Puppenspieler – und seine Akademie

vonMaximilian Theiss,

Obwohl Philippe Jaroussky Ende dreißig ist und somit auf der Karrierelaufbahn noch immer näher am Beginn als an dessen Ende stehen dürfte, offenbart ein Blick in seine Diskografie eine gigantische Fülle an Einspielungen. Da passt es ganz wunderbar, dass das Interview in den Räumlichkeiten seines Plattenlabels stattfand.

Herr Jaroussky, die Anzahl Ihrer veröffentlichen CDs ist ebenso eindrucksvoll wie deren musikalische Bandbreite. Ist es das Schicksal eines Countertenors, seine Stimme immer wieder neu zu entdecken und zu präsentieren?

Philippe Jaroussky: Ich sage immer, dass für Countertenöre nichts geschrieben wurde, auch keine Barockmusik. Natürlich schwingt da eine gewisse Provokation mit, aber was ich damit meine, ist, dass jeder Countertenor die Möglichkeit hat, sich selbstständig sein eigenes Repertoire zu wählen, mit dem er sich wohlfühlt.

Heißt das auch, dass Sie für sich musikalische Selbstfindung betreiben mussten?

Jaroussky: Klar! Ein möglichst breites Spektrum zu singen hat mir zum Beispiel geholfen, neue Klangfarben in meiner Stimme zu entdecken. Für mich war und ist deshalb oft nicht der persönliche Musikgeschmack ausschlaggebend, wenn ich nach Repertoire suche, sondern die Frage, ob ich als Interpret einen musikalischen Zugang zum Werk finde. Ich werde im nächsten Jahr vierzig, und rückblickend finde ich es ist gut und richtig, dass ich eine solche Menge an CDs aufgenommen habe. Manchmal frage ich mich zwar, ob es nicht doch zu viele sind, aber dann kommt mir gleich schon wieder die Idee für ein nächstes Projekt.

Wobei bei Ihren Alben der Anteil an unbekanntem Repertoire größer erscheint als der Anteil an bekannten Arien.

Philippe Jaroussky
Philippe Jaroussky © Simon Fowler/Warner Classics

Jaroussky: Ich gehöre einer Sängergeneration an, die ein Faible für Konzeptalben hat, die Generation Konzeptalbum also, wenn Sie so wollen (lacht). Da stößt man zwangsläufig auf eine Menge unbekannter Arien. Auf der anderen Seite sind all die berühmten Arien auch deshalb so berühmt, weil sie einfach wunderschön sind. Und die will ich nicht erst singen, wenn ich sechzig bin, zumal die Stimme sich mit dem Alter verändert und es somit immer zu spät sein kann für diese eine Arie. Vielleicht nehme ich deshalb auch so viel auf …

Aktuell haben Sie ein Album mit Händel­-Arien veröffentlicht.

Jaroussky: Natürlich, ein Händel-Album ist jetzt nicht das Originellste. Aber ich schätze, dass den Hörern achtzig Prozent der Arien nicht bekannt sein werden. Hier ist kein Giulio Cesare vertreten, kein Ariodante, kein Rinaldo, stattdessen Arien aus „Flavio“, „Radamisto“, „Tolomeo“, „Imeneo“ – bekannte Opern, aber nicht superbekannt. Ich habe die Arien sehr umsichtig gewählt, habe also keine übergroßen Gesangseinlagen für meine Stimme ausgewählt, wie es bei dem einen oder anderen vorherigen Projekt der Fall war, etwa beim „Farinelli“-Album. Bei der Händel-CD lenke ich den Fokus aber mehr auf die Musik als auf die Virtuosität.

Daher auch die vielen Rezitative auf der CD?

Jaroussky: Ich habe die Stücke danach ausgewählt, ob sie interessant sind. Ein Rezitativ ist ein schöner Weg, den Hörer in die Arie hineinzuführen. Wenn du einfach nur Arie an Arie reihst, kann da viel verloren gehen. Händel war ein Meister im Komponieren von Rezitativen, die oft so stark und kraftvoll sind, dass sie sogar noch emotionsgeladener als die Arien selbst sind. Nehmen Sie zum Beispiel das wunderschöne „Stille amare“ aus „Tolemeo“, das in harmonischer Hinsicht absolut verrückt komponiert ist! Ich sage das nicht oft, aber das ist das Album, auf das ich am meisten stolz bin. Ich denke, dass ich hier genau das tue, was ich tun kann. Früher wollte ich oft zwanzig Prozent mehr geben als mir möglich war, was sich auf Dauer negativ auf meine Stimme ausgewirkt hätte.

Sagen Sie das auch den Schülern an der „Académie musicale Philippe Jaroussky“ in Paris, die Sie in diesem Jahr eröffnet haben?

Jaroussky: Ja und nein: Den Schülern und Studenten dort will ich nicht beibringen, wie sie singen sollen, denn dafür haben sie ihre Lehrer. Ich will ihnen vielmehr bei der eigenen Vorstellung helfen, was sie wirklich tun wollen, und ihnen einen Weg aufzeigen.

Wie war’s denn bei Ihnen? Hat Ihnen jemand geholfen, den richtigen musikalischen Weg zu finden?

Jaroussky: Wenn ich diesen einen Lehrer in der Schule nicht gehabt hätte, der meinen Eltern gesagt hat, dass ich unbedingt Musik machen soll, dann wäre ich kein Sänger geworden. Dieser Mensch hat mein Leben also völlig verändert. Vielleicht will ich mit der Académie auch ein bisschen was von dem zurückgeben, was mir durch diesen Menschen ermöglicht wurde. Ich hatte aber auch viel Glück. Mit achtzehn Jahren habe ich das Singen begonnen, mit zwanzig gab ich den Nerone in Monteverdis „L’incorona­ zione di Poppea“, was ein klein wenig verrückt war.

Aber das Risiko hat sich offensichtlich gelohnt!

Jaroussky: (lacht) Trotzdem war ich zu jung! Mein Verstand mag vielleicht bereit gewesen sein, aber meine körperlichen Voraussetzungen waren es noch nicht. Andererseits war diese Furchtlosigkeit auch mein großer Vorteil: Ich hatte nie Hemmungen beim Singen, ganz im Gegensatz zu jener Zeit, als ich Geige oder Klavier gespielt habe. Ich habe viele junge Künstler getroffen, die hochtalentiert und musikalisch sind, denen es aber schwerfällt, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen. Man muss als Künstler das Risiko eingehen.

Philippe Jaroussky
Philippe Jaroussky © Simon Fowler/Warner Classics

Über einen wichtigen Bestandteil des Sängerberufs haben wir noch gar nicht gesprochen: das Schauspielern. Fällt Ihnen das leicht?

Jaroussky: Ich bin kein berufener Schauspieler, das gebe ich auch ganz offen zu, aber man kann die Kunst des Schauspielens lernen. Ich habe zum Beispiel intensiv beobachtet, wie meine Kollegen sich auf der Bühne bewegen. Und ich habe eine Sache verstanden: Wenn du zu einer Opernprobe kommst und mit einem Regisseur arbeitest, wirst du zu seiner Puppe. Du hast dich nicht zu fragen, ob es in Ordnung ist, was sie oder er auf dem Regiestuhl sagt, du tust es einfach und konzentrierst dich auf das Singen.

Nehmen Sie Cecilia Bartoli, die unglaublich wandlungsfähig und flexibel ist. Ein Regisseur kann sie um das exakte Gegenteil bitten von dem, was sie gerade auf der Bühne gemacht hat. Und sie setzt es einfach um! Das muss man erst einmal lernen: einfach nur eine Puppe zu sein. So ein Opernhaus ist eine riesengroße Maschine, an der viele Menschen mit viel Leidenschaft arbeiten, teuer ist so eine Oper obendrein. Eine handwerklich und künstlerisch schlechte Produktion ist da einfach keine Option.

Und umgekehrt: Wie sollte sich ein Regisseur gegenüber einem Sänger verhalten?

Jaroussky: Er muss den Sänger verstehen. Es kann gut sein, dass er während seiner Konzeption an eine ganz andere Art von Sänger dachte, dann geht es natürlich darum, seine Konzeptionen jenem Sänger anzupassen, der nun auf der Bühne steht. Auch er muss also flexibel sein und kann nicht stur seine primäre Idee verfolgen. Für mich macht einen guten Regisseur aus, wenn er von dem, was er möchte, klare Vorstellungen hat, diese aber nicht kompromisslos eins zu eins umsetzen will, sondern auf die jeweiligen Möglichkeiten und auch menschlichen Eigenschaften der Sänger eingeht. Sänger sind absolut unterschiedlich.

Sind Sie als Countertenor auf der Bühne limitierter als beispielsweise ein Sopran, da Sie eine andere Gesangstechnik haben?

Jaroussky: Nicht, weil ich Countertenor bin. Aber wir Countertenöre sind untereinander sehr verschieden, haben unterschiedliche Voraussetzungen und damit auch unterschiedliche Herausforderungen. Ich selbst zum Beispiel würde nie einen Giulio Cesare von Händel singen.

Niemals oder noch nicht?

Jaroussky: Niemals! Auch Ariodante nicht. Ich wähle meine Partien sehr umsichtig aus. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich einem Charakter etwas Neues und Ungewöhnliches verleihen kann. Ich möchte mit meiner Rolle überraschen und dem Publikum etwas bieten, was es so noch nicht gehört hat. Das macht schließlich die Oper so spannend.

Philippe Jaroussky singt Händel:

https://youtu.be/1ON4YbE6unM

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Arien aus Flavio, Imeneo, Siroe u. a.
Philippe Jaroussky
Ensemble Artaserse
Erato

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