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Movimentos Festwochen 2017

Jenseits des Bildes

Die MOVIMENTOS FESTWOCHEN laden alljährlich die renommiertesten Tanzkompanien nach Wolfsburg – zum Beispiel diejenige von Angelin Preljocaj

vonDagmar Ellen Fischer,

Abgesehen von Fußballmannschaften und deren Fans, die an den Wochenenden hierher pilgern, ist die übliche Bewegung aus Wolfsburg hinaus – sofern man auf die Autos blickt, die von hier aus in die Welt verschickt und verschifft werden. Einmal im Jahr gibt es jedoch eine große Bewegung in die niedersächsische Großstadt hinein, dann nämlich, wenn die großen Künstler der Welt zu den „Movimentos Festwochen“ strömen, die die Autostadt seit 2003 veranstaltet.

Angelin Preljocaj
Angelin Preljocaj © Rita Antonioli

Rund fünfzig Tanzaufführungen, Konzerte und Lesungen sowie Workshops finden im April und Mai statt und setzen sich in diesem Jahr mit dem Thema „Freiheit“ auseinander. Neben Auftritten des Nederlands Dans Theater oder der Vertigo Dance Company präsentiert sich mit dem Ballet Preljocaj eine weitere Tanzcompagnie von Weltrang. In Lyon machte sich concerti ein Bild vom Schaffen des französisch-albanischen Tänzers und Choreografen.

„Bonjour Monsieur, la Maison de la Danse, c’est quelle direction?“ Mein Französisch reicht gerade zum Überleben im großstädtischen Alltag. „Voilà!“ antwortet der Angesprochene und weist mir den Weg zum hohen Gebäude am Ende der Straße. Dort steht das mehrstöckige und auch inhaltlich auf unterschiedlichen Ebenen exklusiv dem Tanz gewidmete Haus, la Maison de la Danse – beneidenswerte Lyoner! Die wissen diesen Ort zu schätzen und strömen am Freitagabend in Scharen dem hell erleuchteten, halbrunden Eingang zu.

Zeitgenössischer Tanz in der Mitte der Gesellschaft

Aus dem großzügigen Foyer führen geschwungene Treppen hinauf zum Theater – schon die Architektur erzählt von Bewegung. An der Bar gibt es erlesene kleine Snacks in Glasschälchen – französische Esskultur ist auch auf die Schnelle möglich! Ich widerstehe dem verlockenden Angebot und setze mich früh auf meinen Platz, um das Publikum beobachten zu können. Erstaunlicherweise sitzen hier Menschen, deren Typologie in keiner Tanzaufführung einer deutschen Stadt aufzuspüren wäre – außer bei Movimentos vielleicht, ausgerechnet: zwei ältere Männer, die aussehen wie Handwerker nach Feierabend und ganz offensichtlich nicht von ihren Frauen zum Theaterbesuch genötigt und „mitgebracht“ wurden; eine Frau mittleren Alters, die den Eindruck erweckt, direkt vom heimischen Herd ins Theater gefallen zu sein; ein junges Mädchen mit pinkem Oberteil und Zebrastreifen-Leggings, dem man auf den ersten flüchtigen Blick ein größeres Interesse an modischem Nagellack denn an modernem Tanz unterstellen würde … In Lyon scheint der zeitgenössische Tanz in der Mitte der Gesellschaft, an der Basis angekommen zu sein. Am dritten Abend des Gastspiels der Choreografie „La fresque“ ist das Theater mit seinen 1150 (!) Plätzen nahezu ausverkauft. Das jüngste Werk von Angelin Preljocaj lockt reichlich Publikum an: Der 1957 bei Paris geborene Künstler ist längst ein Star unter den führenden französischen Choreografen. Mit seinem 1985 gegründeten „Ballet Preljocaj“ residiert er im 300 Kilometer entfernten südfranzösischen Aix-en-Provence.

Verliebt in ein Gemälde

Szenenbild aus "La Fresque" des Ballett Preljocaj
Movimentos – La Fresque/Ballett Preljocaj © Jean-Claude Carbonne

Die neueste Kreation entstand auf Anregung von Emmanuel Demarcy-Mota, Direktor des ebenfalls regelmäßig Tanz beherbergenden Théâtre de la Ville in Paris. Ein Stück für junges Publikum wünschte sich der Koproduzent, und so machte sich der Choreograf auf die Suche nach einem geeigneten Stoff. Zu diesem Zweck las er unzählige Märchen aus den unterschiedlichsten Kulturen zwischen Ozeanien und Südamerika; fündig wurde er schließlich bei einer Erzählung aus China: Das Wandbild, gemeint ist ein Fresko. Die Geschichte handelt von einem Besucher eines Klosters, der sich in eine weibliche Figur auf einem Wandbild verliebt. Es gelingt ihm, ins Gemälde zu klettern und auf diese Weise zu ihrer Welt zu gehören. Dort lebt er eine Weile, heiratet seine Angebetete, doch irgendwann fällt er wieder aus dem Bild heraus und zurück in seine ursprüngliche Umgebung. Während in der fantasierten Welt einige Jahre vergangen sind, verbrachte der Verliebte gemäß eigenem Zeitmaß wenige Minuten im Gemälde – vergleichbar einem Traum, der nur Sekunden dauert, den Träumer jedoch eine lange Zeitspanne erleben lässt.

Szenenbild aus "La Fresque" des Ballett Preljocaj
Movimentos – La Fresque/Ballett Preljocaj © Jean-Claude Carbonne

Da sich junge Menschen ganz selbstverständlich in virtuellen, nicht realen Welten bewegen, erschien Preljocaj „diese Reise in eine andere Dimension“ passend als Thematik für jugendliche Zuschauer. Dass es nun ein Stück geworden ist, das tatsächlich Publikum jeden Alters anspricht, ist ihm recht. Das mag zum einen daran liegen, dass er die Erwartungen der jungen Zielgruppe zu keinem Zeitpunkt als weniger anspruchsvoll betrachtet hat als jene der sogenannten Erwachsenen. Zum anderen auch daran, dass Preljocaj eine besondere Beziehung zur Malerei hat: Die Vorstellung, dass „die Wirkung eines Gemäldes so stark sein kann, dass es jemanden aus der vertrauten Umgebung katapultiert“, ist ihm nicht fremd, gesteht er; viele seiner Arbeiten wurden durch Bildende Kunst inspiriert. In „La fresque“ wirken zehn Mitglieder seiner aus 24 Tänzern bestehenden Company mit.

Szenenbild aus "La Fresque" des Ballett Preljocaj
Movimentos – La Fresque/Ballett Preljocaj © Jean-Claude Carbonne

Am Anfang seiner Arbeit standen poetische, bildhafte Ideen, die Emotionen erzeugen. Das lebendige Wandgemälde wird von fünf Frauen dargestellt, die mit wilden, sinnlichen Bewegungen den (Bilder-) Rahmen sprengen; dabei entwickeln ihre langen Haare ein Eigenleben. Nicht von ungefähr, denn im Stück übernehmen Haare eine wichtige Rolle: Gefilmte Haarmähnen, mal im Wind, mal im Wasser, bilden die Grundlage für die magischen Projektionen, die den 80-minütigen Abend dezent begleiten. Und wenn man weiß, dass in jener chinesischen Legende offene Haare von unverheirateten Frauen getragen werden, gebändigte Frisuren indes von Ehefrauen, bekommt das Finale von „La fresque“ noch eine überraschende symbolische Bedeutung.

„Gefiel Ihnen das Stück?“, fragt meine Sitznachbarin im Theater unvermittelt, als der lang anhaltende Applaus verebbt. Und während ich innerlich noch auf Fremdsprache umschalte, erzählt sie mir, was sie am heutigen Abend schätzt und was sie weniger mag – und beides begründet sie überzeugend. Ein leidenschaftlich am Tanz interessiertes Publikum, das nach der Aufführung nicht gleich aufspringt, sondern Lust und Zeit hat, über das Gesehene zu reden, wünscht sich jeder Choreograf. Außer in Lyon gibt es das zum Beispiel bei Movimentos in Wolfsburg. Zum diesjährigen Motto „Freiheit“ passt „La fresque“ perfekt, weshalb sich die Verantwortlichen die deutsche Erstaufführung des Werks für das diesjährige Festival gesichert haben. „Jeder kann Beziehungen herstellen, auch zu jemandem, der real gar nicht existiert“, so Angelin Preljocaj. Diese Freiheit gibt es immer.

Die Festivaldaten im Überblick:

Movimentos Festwochen
21.4.–21.5.2017
Nils Mönkemeyer, William Youn, Quatuor Voce, Nederlands Dans Theater, Göteborgs Operan Danskompani u. a.
Wolfsburg

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