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Interview Esa-Pekka Salonen

„Was ist wertvoller: Carmen oder Tannhäuser?“

Warum der Dirigent Esa-Pekka Salonen in der Musik nicht nach der Wahrheit sucht

vonArnt Cobbers,

Er ist neben Pierre Boulez der einzige Weltklassedirigent, der auch ein renommierter Komponist ist: Esa-Pekka Salonen. 17 Jahre war der 53-jährige Finne Chefdirigent des Los Angeles Philharmonic, seit drei Jahren leitet er das Orchester, bei dem seine große Karriere begann: das Philharmonia Orchestra London. Jetzt kehrt Salonen auch nach Hamburg zurück, um den Bruckner-Zyklus des NDR Sinfonieorchestes mit seiner Lesart der „Romantischen“ fortzusetzen. Und er dirigiert sein Violinkonzert mit Thomas Zehetmair als Solist.

Herr Salonen, sind Sie heute noch dankbar für den Anruf aus London, mit dem 1983 Ihre Dirigentenkarriere begann?

Herr Salonen, sind Sie heute noch dankbar für den Anruf aus London, mit dem 1983 Ihre Dirigentenkarriere begann?

Ich hatte nie vor, eine Dirigentenkarriere zu machen. Wir waren damals eine Gruppe von jungen Komponisten in Finnland, Magnus Lindberg, Kaija Saariaho und einige andere. Wir wollten das finnische Musikleben revolutionieren, wollten die Fenster öffnen zur Europäischen Avantgarde und stellten Konzerte auf die Beine. Dazu brauchten wir einen Dirigenten. Aber die Etablierten hatten kein Interesse an unserer Musik. Ich hatte als Hornist Erfahrung als Orchestermusiker, und Jorma Panula, der Dirigierlehrer, schlug mir vor, das Dirigieren zu probieren. Das fühlte sich für mich ganz natürlich an. Ich habe dann sehr schnell gemerkt, dass ich mir mit dem Dirigieren meinen Lebensunterhalt verdienen konnte, was mit dem Komponieren nicht ging. Und weil ich im Ruf stand, schnell zu lernen, wurde ich eine Art Einspringer-Spezialist für Kollegen, die krank wurden oder starben oder aus anderen Gründen verhindert waren. Aber es war immer so: Ich habe dirigiert, mit dem Honorar die Miete bezahlt und dann weiter komponiert, bis der nächste Anruf aus Göteborg oder Oslo oder Kopenhagen kam. Und dann war eines Tages London am Apparat, wo sie jemanden für Mahler 3 suchten – das Stück kannte ich gar nicht. Ich habe mir in der Rundfunkbibliothek in Helsinki die Partitur ausgeliehen und gedacht: Wenn‘s schief geht, kann ich wenigstens meinen Enkeln erzählen, dass ich mal das Philharmonia Orchestra dirigiert habe. Ich hatte vier Tage Zeit, aber es ging gut – und mit einem Mal war mein Name in aller Munde, zu meinem großen Erstaunen, denn ich war ja nicht besser als vorher. Plötzlich gab es Agenten, Manager, Orchester, Plattenfirmen, Journalisten, die alle was von mir wollten. Vieles kam für mich zu früh. Zwischendurch ging es mir auch gar nicht gut: Ich war nur noch unterwegs, habe Repertoire gelernt wie ein Verrückter und hatte keine Zeit mehr zu komponieren. Aber es war natürlich wahnsinnig aufregend, mit den großen Orchestern wie den Berliner Philharmonikern zu arbeiten. Und dann geschah das Beste, was mir passieren konnte: Ich wurde Chefdirigent des Schwedischen Rundfunkorchesters in Stockholm. Ein gutes Orchester, eine Stadt, die ich liebe, nette Leute. Und als sich der Staub etwas gelegt hatte, habe ich wieder angefangen zu komponieren. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Es gibt Tage, wo ich mich frage: Was tue ich hier? Verschwende ich mein Leben mit etwas, was andere genauso gut können? Statt zu tun, was nur ich kann: meine Musik schreiben. Aber das Dirigieren gibt mir immer noch eine große Befriedigung. Die Arbeit an der Musik selbst, aber auch die Arbeit mit anderen Musikern. Und wenn ich am Pult stehe, und ein großartiges Orchester spielt mit voller Intensität – das ist großartig, das möchte ich nicht missen. Ich habe im Jahr 2000 ein Sabbatical eingelegt, um nur zu komponieren. Und es endete damit, dass ich dauernd ins Konzert gerannt bin, weil ich den Klang so vermisst habe.

Die meisten Komponisten stehen nicht so gern im Mittelpunkt, Dirigenten aber müssen genau das mögen. Wie ist es bei Ihnen?

Ich bin eher ein zurückgezogener Mensch. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und die Verantwortung für hundert Leute zu übernehmen, das war nicht natürlich für mich. Aber als ich diese Unsicherheiten, die wohl jeder junge Mensch fühlt, überwunden hatte, habe ich gemerkt, dass ich diese Arbeit sehr mag. Man braucht zwei verschiedene Arten von Energie, und es ist nicht so einfach, zwischen den beiden Persönlichkeiten hin und her zu wechseln. Als Dirigent gibt man zwei Stunden Energie, dann kommt der Applaus, das Abendessen, eine Flasche Wein. Das ist wie ein 100-Meter-Lauf. Als Komponist arbeitet man langsam und einsam, hat keinen sozialen Austausch und braucht eine Energie wie ein Marathonläufer. Wenn ich einige Wochen intensiv dirigiert habe, brauche ich Zeit, wieder umzuschalten zum Komponieren. Umgekehrt genauso.

Sie haben also Dirigier- und Komponierphasen?

Ich versuche mich als Dirigent ganz mit dem jeweiligen Komponisten zu identifizieren, und da kann ich nicht parallel neue Musik erfinden. Ich kann orchestrieren und technische Arbeiten machen, aber nicht wirklich kreativ sein. Dafür brauche ich Abstand und das Wissen, dass ich mich für einige Wochen nur mit mir selbst identifizieren muss.

Ist es leichter oder schwerer, eigene Werke zu dirigieren?

Wenn ich neue Werke dirigiere, wird es schwierig. Wenn etwas nicht so funktioniert, wie ich es mir gedacht habe, weiß ich nicht, ob es an mir als Komponist oder an mir als Dirigent oder aber am Orchester liegt. Bei älteren Werken ist es anders. Dann weiß ich nicht mehr so genau, was mir beim Schreiben vorgeschwebt hat, sondern sehe das, was in den Noten steht. Das ist, als würde ich ein Stück eines anderen Komponisten dirigieren.

Und wie ist es, wenn andere Dirigenten Ihre Musik dirigieren?

Das waren einige meiner schönsten Erlebnisse, wenn Dirigenten von der Qualität eines Gergiev, Saraste oder Eschenbach meine Werke dirigieren, weil sie durch ihre Persönlichkeit aus der Musik etwas herausholen, von dem ich vielleicht gar nicht wusste, dass es drin ist.

Die Dirigenten sind die Super-Stars der Klassik. Wird man sich in hundert Jahren eher an die Dirigenten oder doch an die Komponisten erinnern?

An die Komponisten, keine Frage. Dass es diesen Dirigentenkult gibt, hängt damit zusammen, dass unsere Kultur Erfolg und Macht so sehr bewundert. Ich bewundere Karajan als Dirigenten, aber dieser Kult, den er kreiert hat, und all diese silberhaarigen Gentlemen, die neben ihren Rennautos und Harley Davidsons auf den Cover posieren – das ist albern und mir fremd. Der Dirigent ist ein Musiker unter Musikern.

Zeitgenössischen Komponisten wird oft vorgeworfen, ihre Musik sei für das breite Publikum zu schwer verständlich. Aber wenn sie leichter zugängliche Musik schreiben, wie Sie es tun, rümpfen Kritiker die Nase. Fühlen Sie sich manchmal zwischen den Stühlen?

Ich finde es lächerlich, dass es in Europa noch immer Regeln gibt, was in neuer Musik erlaubt ist und was nicht. Es stimmt, meine Musik wird auf vielen Festivals nicht gespielt. Ich habe nichts gegen die post-serielle Avantgarde. Ich habe nur etwas gegen die Ansage: Dies ist richtig und das ist falsch. Der Sinn der Kunst liegt für mich nicht darin, die Wahrheit zu suchen. Wir haben es mit Emotion, mit Kommunikation, mit Expression zu tun, unser Ziel muss sein, den Zuhörern kraftvolle Erfahrungen zu ermöglichen. Die Wahrheit ist anderswo. Ich habe mal mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München ein Abokonzert dirigiert und in der Woche darauf ein Konzert in der Neue-Musik-Reihe musica viva mit Werken von Lindberg, Anders Hillborg und mir. Und der Kritiker der Süddeutschen Zeitung schrieb: Die Musik war gut, aber es ist eher Abo-Musik als musica-viva-Musik. Diese Idee fand ich faszinierend: Es gibt Abo-Musik, die für ein älteres Publikum gedacht ist, das mehr zahlt für seine Eintrittskarten, und es gibt Musik für die wirklich Harten. Das ist mir völlig fremd. Musik ist Musik. Wenn ich über die Probleme der Rezeption der neuen Musik und deren Ghettoisierung lese, werden alle Arten von gesellschaftlichen und kulturellen Gründen aufgeführt. Aber nie fragt jemand, ob es nicht an der Musik selbst liegen könnte. Kunstmusik ist etwas anderes als kommerzielle Musik, und es ist gut, dass wir ihren Erfolg nicht in Stückzahlen oder Geld messen. Aber das Ziel sollte dennoch sein, Musik zu schreiben, die normale Konzertgänger verstehen und genießen können.

Manche Leute sagen, Lennon und McCartney seien die Schuberts der heutigen Zeit. Sehen Sie gute Popmusik-Komponisten als Kollegen auf Augenhöhe?

Ich wünschte, ich könnte ein Stück wie Yesterday schreiben. Die Beach Boys haben exzellente Kompositionen geschrieben, ebenso Björk oder Radiohead – das sind seriöse Künstler, die Meisterwerke in ihrem Bereich schreiben. Unterschiedliche Qualtitätsebenen zu definieren ist Unsinn. Oder um in der Klassik zu bleiben: Die West Side Story von Bernstein ist genauso wertvoll wie Gruppen von Stockhausen. Ist Carmen oder Tannhäuser das größere Meisterwerk? Die Frage ist idiotisch. Die Menschen erwarten etwas anderes von Musik in verschiedenen Situationen. Es gibt Momente, wo auch ich gern Popmusik höre, letztens habe ich sogar Black Metal der norwegischen Band Mayhem gehört – das fand ich spannend, wenn ich auch nach einer Viertelstunde genug hatte. Dass das, was wir als Musik verstehen, so eine Bandbreite abdeckt – das ist doch faszinierend.

Fühlen Sie sich nach den vielen Jahren in Los Angeles als halber Amerikaner?

Ich hatte wunderbare Jahre in den USA, und ich denke, dass ich für den Rest meines Lebens einen Fuß dort behalten werde. Aber ich habe mich nie als Amerikaner gefühlt. Ich bin und bleibe Europäer. Nordeuropäer. Das Temperament der Menschen, die Kultur, das Licht – damit bin ich aufgewachsen, da fühle ich mich zu Hause.

Stört es Sie nicht, dass Sie als Finne immer wieder Sibelius dirigieren müssen wie beim letzten Berliner Msikfest?

Ich dirigiere sehr wenig Sibelius, auch wenn ich nichts gegen ihn habe. Es war einfach ein interessantes Programm beim Musikfest: mit Kullervo und Busonis Orchestersuite, die er seinen finnischen Freunden gewidmet hat.

Und dazwischen Ihr Violinkonzert als deutsche Erstaufführung. Warum entstehen im Moment so viele Violinkonzerte?

Einen virtuosen Solisten gegen das Kollektiv zu stellen – das ging lange Zeit nicht. Und wenn Solo-Konzerte geschrieben wurden, waren es fast immer Anti-Konzerte. Die Idee eines großen Solo-Konzerts in der romantischen Tradition, als große Form mit einem Virtuosen als Solist – das ist vielleicht wieder im Kommen. Ich hatte einfach das Gefühl, ein Violinkonzert müsse jetzt sein.

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