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Interview Georgijs Osokins

„Ich liebe die Rolle des Archäologen“

Der lettische Pianist Georgijs Osokins spricht im Interview über seine Faszination für Arvo Pärts Musik, ständiges Zweifeln und den Zauber alter Klaviere.

vonJan-Hendrik Maier,

Die Finalteilnahme am Chopin-Wettbewerb 2015 ebnete Georgijs Osokins als damals 19-Jähriger den Weg auf zahlreiche große Bühnen. Eine enge künstlerische und persönliche Freundschaft verbindet ihn seither mit Gidon Kremer. Auch Arvo Pärt wurde auf das jüngste Mitglied einer Rigaer Musikerfamilie aufmerksam.  Zum 90. Geburtstag des estnischen Komponisten hat Osokins dessen gesammelte Klavierwerke aufgenommen.

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Das Video zu Ihrer Solo-Transkription von „Lamentate: Fragile e conciliante“ wurde vor dem Kernkraftwerk Ignalina in Litauen gedreht. Welche Verbindung sehen Sie zwischen Pärts gebetshafter Musik und diesem Schauplatz?

Georgijs Osokins: Es war eine ganz besondere Erfahrung, ein Gebet von Arvo nur einhundert Meter entfernt von zwei Kernreaktoren zu spielen. Man spürt wirklich die Kraft, die noch immer unter der Oberfläche brodelt. Die Anlage soll ja erst 2040 vollständig abgeschaltet sein. Arvo bezeichnete das Stück als ein Lamento für die Lebenden, nicht für die Toten. Es ist ein Gebet an Gott und höhere Instanzen und es fordert uns alle zu verantwortungsbewusstem Handeln auf. Die Musik macht durch ihre eigene Zerbrechlichkeit die Zerbrechlichkeit der Welt sichtbar. Unser Video-Opus ist ein Appell dafür, unser Tun zu hinterfragen.

Was fasziniert Sie an Pärts Musik?

Osokins: Seine Werke haben meine Identität als Musiker geprägt. Arvo widmet sich der Musik in spiritueller Weise, er behandelt jede Note mit größter Sorgfalt, jeder Ton hat einen philosophischen Sinn. Entgegen eines bestimmten Zeitgeists Ende des 20. Jahrhunderts, der postulierte, nach Schostakowitsch sei alles komponiert geworden und es gäbe ohnehin keinen Weg mehr, die Musik weiterzuentwickeln, ja, nach Jahren der Zensur und des Schweigens hat Arvo seine individuelle Stimme gefunden. Seine Musik ist so kraftvoll und berührend, sie ist voller Poesie und Schönheit.

Inwiefern hat die persönliche Begegnung mit dem Komponisten Ihre Interpretation geprägt?

Osokins: Ich liebe die Rolle des Archäologen, der so viele Details wie möglich entdeckt, bevor ich meine Interpretation erarbeite. Ich bin dankbar, dass ich viele Werke durch Gidon Kremer kennengelernt habe, der sich wie kein zweiter in Pärts Musik auskennt und diese aufführt. Doch die direkte Begegnung mit Arvo hat natürlich eine unmittelbare Verbindung zu seinen Stücken geschaffen. Ich bin mir nicht sicher, ob ein Komponist wirklich seine gesamte Musik erklären kann, aber ich fühle mich privilegiert, dass Arvo und seine wunderbare Frau Nora mir geholfen haben, mich in diesen Stücken zurechtzufinden, manchmal mit sehr lakonischen Worten.

Wieso haben Sie sich auf Ihrem jüngsten Album für einen 100 Jahre alten Steinway-Flügel entschieden?

Osokins: Ich habe mehr als zwei Jahre nach dem richtigen Instrument gesucht. In Arvos Stücken muss der Anschlag einerseits so gesichtslos wie orthodoxer Chorgesang sein, andererseits brauche ich eine Fülle an Obertönen. Ganz so, als ob man in weißes Licht blickt, das sich nach einem Moment in alle erdenklichen Farben aufspaltet. Diese Mehrdimensionalität ermöglichen nur ältere edle Klaviere. Spielt man auf ihnen in tiefer, mittlerer oder hoher Lage, klingt es so, als spielte man auf drei verschiedenen Instrumenten.

Sie kommen aus einer Musikerfamilie. Stand da jemals ein anderer Beruf als der des Pianisten zur Debatte?

Osokins: Ich sage oft, ich sei unter dem Klavier aufgewachsen, weil immer jemand gespielt hat und es nur eine Frage der Zeit war, bis ich selbst an die Tasten wollte. Aber meine Eltern waren klug genug, ihren Kindern nichts aufzuzwingen. Eine Zeitlang wollte ich Tennisprofi werden, doch die Entscheidung für den Weg des Musikers fühlte sich natürlicher an. In jedem Konzert trete ich in einen Dialog mit der Poesie des Klangs, den Geheimnissen unserer Existenz und lerne Neues über mich. Wäre ich nicht Pianist geworden, hätte ich viel verloren.

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Was ist für Sie als Pianist die größte Herausforderung?

Osokins: Den eigenen Zweifeln zu widerstehen. Ich weiß nicht, wie ein Stück gespielt werden soll. Wer behauptet, er wisse ganz genau, wie Musik klingen muss, vor dem sollte man besser weglaufen. Die Herausforderung besteht für mich darin, trotz meiner inneren Zweifel stets kreativ zu bleiben und positiv zu denken. Man muss den eigenen Organismus gut kennen und sich in jeder Situation neu anpassen.

Stets auf der Suche nach dem passenden Klang: Georgijs Osokins
Stets auf der Suche nach dem passenden Klang: Georgijs Osokins

Sie hatten Unterricht bei so unterschiedlichen Künstlern wie Sergey Babayan und András Schiff. Welche Impulse haben Sie erhalten?

Osokins: Mein erster und wichtigster Lehrer war mein Vater Sergejs. Er hat mich auch schon früh verschiedenen Meistern wie Dmitri Bashkirov und Sergey Babayan vorgestellt. Sie alle vertreten eine unterschiedliche Philosophie und haben mich auf ihre Weise geprüft. Der vielleicht größte Wendepunkt auf der Suche nach meiner eigenen Klangsprache war der Unterricht bei Georg Friedrich Schenck in Düsseldorf, der mir bis dahin verborgene Dinge am Klavier gezeigt hat. Ich denke, es gibt nicht den einen „richtigen“ Weg, Klavier zu spielen. Aber man kann sich verschiedene Orientierungspunkte erarbeiten und sich so seinen eigenen Weg bahnen.

Im Konzert sitzen Sie stets auf einem maßgefertigten, sehr tiefen Klavierhocker.

Osokins: Als Jugendlicher war ich regelrecht davon besessen, Aufnahmen zu vergleichen. Mir fiel auf, dass Michelangeli, Horowitz und Gould tiefer saßen als üblich. Das müsste doch einen Grund haben, dachte ich damals. Später hat mich Professor Schenck darin bestätigt. Die tiefe Sitzposition hilft mir dabei, jedem Klavier ein ausgewogenes, stärker artikuliertes und mehrdimensionales Klangbild zu entlocken.

Ihre Tempogestaltung wurde einmal mit der des legendären Emil Gilels verglichen. Ist so etwas Ansporn oder Bürde für Sie?

Osokins: Ich verstehe, dass das damals als großes Kompliment gemeint war, aber ich glaube nicht, dass man sich wirklich mit einem Genie wie Emil Gilels vergleichen kann. Mit 18, 19 fühlte ich mich vor allem seiner Beethoven-Interpretation sehr verbunden, das hat mich womöglich beeinflusst. Wie kein zweiter hat er es verstanden, Klangfarbe, Zeit und Raum überzeugend zu kombinieren. Zugleich wohnte seinem Klavierspiel stets auch etwas Geheimnisvolles inne. Für mich ist er einer der größten Pianisten aller Zeiten.

Woher schöpfen Sie Inspiration?

Osokins: Ich habe das Glück, regelmäßig die fantastische Landschaft des Baltikums erleben zu dürfen. Einfach im Wald spazieren gehen und die Akkus aufladen. Ich liebe aber auch zeitgenössisches Ballett, das Kino, die Malerei … Gott hat so viele Musiken. Manchmal ist sie nicht da, dann muss man auf sie warten. Manchmal muss man auch selbst aktiv werden, um sie zu entdecken. Aber wenn man neugierig ist und positiv denkt, findet man sie überall.

Aktuelles Album:

Album Cover für For Arvo

For Arvo

Pärt: Für Alina, Variationen zur Gesundung von Arinuschka, Fratres, Musik für Kindertheater, Pari intervallo, Sonatinen op. 1, Für Anna Maria, Partita op. 2, Fragile & Hymn to a Great City

Georgijs Osokins (Klavier). DG

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