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Blind gehört Lars Vogt

„Das hat den nötigen Irrsinn“

Der Pianist Lars Vogt hört und kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, wer spielt

vonArnt Cobbers,

Der Rheinländer Lars Vogt, der inzwischen in London und Berlin lebt, gehört seit zwei Jahrzehnten zu den führenden Pianisten weltweit. Einen Tag nach dem Finale des von ihm gegründeten Kammermusikfestivals „Spannungen“ in Heimbach in der Eifel nahm er sich ausgiebig Zeit fürs CD-Hören. Der 41jährige geht lebhaft mit der Musik mit und kommentiert einzelne Details. „Macht Spaß“, sagt er zwischendurch.

Mozart: Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll KV 466
Piotr Anderszewski (Klavier & Leitung)

Scottish Chamber Orchestra 2005
Virgin Classics

Sie phrasieren schön. Hier müssten die Oboen auf die Dissonanz hinphrasieren, schade, das ist ein bisschen verschenkt. Aber insgesamt schön. Ein historisch informiertes Orchester. (Klavier setzt ein) Sehr schöner Anfang, schlicht, und trotzdem ist Spannung zwischen den Noten. Ich würde wahrscheinlich ein bisschen mehr machen, aber es gefällt mir gut. Gutes Tempo. Es ist so schön, wenn ein Pianist das Tempo in Ruhe lässt. Bei Mozart spielt sich alles in der Feinheit ab, in den Fingerspitzen. Die fortes sind mir ein bisschen zu hart, es ist manchmal ein bisschen rabiat. Aber das ist eine Kritik auf hohem Niveau. Mir gefällt gut, dass die Sechzehntel Ausdruck haben, es rennt nicht davon. Na, der Übergang hier gefällt mir nicht so, der muss gespenstischer sein, finde ich, wenn es in diese fürchterliche d-Moll-Welt geht, das ist nicht so ein äußerliches Drama. Keine Ahnung, wer da spielt. Piotr Anderszewski? Das ist ein hochmusikalischer, tiefernst denkender Pianist, ich schätze ihn sehr. Das passt: Wenn überhaupt etwas, dann stört mich bei ihm manchmal die Härte. Er ist ein wunderbarer Mensch. Wir waren im selben Wettbewerb in Leeds 1990 und später bei derselben Agentur. Ohne ihn hätte ich auch meine Freundin nicht kennengelernt, er hatte beim Philharmonia Orchestra abgesagt, wo sie Solo-Bratscherin war, und ich bin eingesprungen.

Haydn: Sonate Nr. 10 C-Dur Hob. XVI:1
Tzimon Barto (Klavier) 2008
Ondine

Das Stück kenne ich nicht. Ist das Haydn? Es ist so schwer, den Haydnschen Witz anzubringen nur so als Andeutung. Manches ist sehr schön. Aber insgesamt ist es ein bisschen eigenartig affektiert. (2. Satz, Adagio) Schöne gesangliche Linie, sehr schön melodisch, ganz fein. Aber jetzt nicht noch ein Ritardando, wenn man schon so langsam ist. Ein Ausdrucks-Exzentriker. Er hat ein Übermaß an Ausdruck, das geht schon ins Sezieren. Und ist ein bisschen romantisierend. Dabei ist die Klassik ganz einfach, man kann alles abstreifen. Dieser Pianist hat ein Riesentalent für Farben. Es gibt so viele Pianisten, wo sich alles nur in irgendwelchen Grauzonen abspielt. Hier gibt es eine Spannung, die das Stück trägt. Ich würde es nie so spielen, aber diesen Aspekt mag ich. Naja, jetzt zieht es sich. Für eine gewisse Zeit ist es spannend, aber man muss auch das ganze Stück im Blick haben. Und dann immer wieder die Ritardandi, die nehme ich ihm übel. Der macht bestimmt nicht viel Kammermusik. Die Gefahr ist groß, dass man als Pianist schnell in einer Nabelschau versinkt. Man sollte sein Talent in den Dienst einer Sache stellen, die höher ist als man selbst. Tzimon Barto? Ich kenne nur frühe Aufnahmen von ihm.

Liszt: h-Moll-Sonate
Boris Berezovsky (Klavier) 2009
Mirare

Diese erste Tonleiter ist der Abstieg in den absoluten Abgrund, da kann mehr passieren. Und hier steht ein Keil drauf, da schert sich kein Mensch drum. Unglaublich schnelle Finger, aber er wird der mystischen Gewalt dieses Werks nicht gerecht. Schöne saubere Oktaven… Die Farbe ändert sich, aber er geht einfach drüber hinweg… Hier sind die Oberstimme und die Akkorde darunter schön getrennt, das ist sehr gut gemacht, so hört man es selten. Aber hier muss mehr passieren, zwischen dem piano und dem forte liegen Welten, da kann man nicht einfach so weiterspielen. Nicht schneller werden! Ich finde es eine Unart, wenn die Pianisten gerade bei Liszt machen, was sie wollen. Hier, bei dieser Tonleiter, machen alle ein accelerando, aber da steht keines. Diese irren technischen Herausforderungen, von denen die h-Moll-Sonate voll ist, stehen im Dienst einer Botschaft, die nichts mit „Ich hab schnelle Finger und kann tolle Oktaven“ zu tun hat… Jetzt muss es an die Grenzen gehen. Das ist natürlich toll, wenn man das so kann wie er. Aber doch nicht noch schneller werden! Jetzt erst beginnt die Stretta – wo soll denn das noch hingehen? Er wird wahrscheinlich wirklich noch schneller. Diese Stelle ist schon überzeugend, die hat den nötigen Irrsinn. Aber er findet nicht zurück in diese depressive Aggressivität. In den Pausen passiert doch eigentlich so viel, verlier dich mal! Nein, das ist nicht meine Liszt-Sonate, da muss ich die Kraft von Mystik spüren. Und einen gewissen Grundrespekt. Als ich die Liszt-Sonate genau durchgearbeitet und danach einige Aufnahmen gehört habe, hat für mich fast nur Emil Gilels Bestand gehabt – eine Live-Aufnahme voller falscher Töne, aber es kommt eine Vision rüber. Das war Boris Berezovsky? Der hat auch eine Pranke! Ein irre begabter und sehr netter Kerl. Mit manchen seiner Interpretationen komme ich überhaupt nicht klar, und bei anderen denke ich, das kann keiner so wie er. Seine Rachmaninow-Preludes höre ich immer wieder, die sind so schön!

Chopin: Etüde Nr. 14; Schubert: Impromptu B-Dur op. 142/2

Wilhelm Backhaus 1956 (Live-Mitschnitt)
Profil Edition Günter Hänssler

Sehr fein! Innerlich bewegt. Er fummelt nicht am Rhythmus rum, und doch hat es Freiheit. Eine Freiheit, die von innen kommt. Man muss Geduld haben bei diesen Schubert-Stücken, sie sich einfach entfalten lassen, vertrauen auf die Aussage, die ihnen innewohnt. Auch hier ist die Stimmverteilung so schön. Die Oberstimme ist klar, drunter rumort es in den Bratschen, aber es wird nie zu dick – eine Kunst, die selten geworden ist. Schön, und nicht sentimental. Man meint wirklich ein Streichquartett zu hören. Auch wenn da dieselbe Dynamik steht, kann eine Stimme auch mal dienen, wie in der Kammermusik. Und dazu noch so eine feine filigrane Technik. Diese alten Live-Mitschnitte sind ja nicht bearbeitet. Aber er macht überhaupt keine Fehler! Ich hätte sonst Edwin Fischer gesagt. Ist das Gieseking? Backhaus? Von ihm habe ich mal einen Mitschnitt aus Salzburg gehört, da war er über 80 – ein unglaubliches Niveau!

Beethoven: Klaviertrio op. 1/3
Andreas Staier (Pianoforte), Daniel Sepec (Violine)

Jean-Guihen Queyras (Violoncello) 2006
harmonia mundi

Ich fühle mich der historischen Aufführungspraxis sehr nahe. Bei ein paar Stellen könnte man ein bisschen Vibrato geben, finde ich. Und dass man grundsätzlich fortes wie Ohrfeigen spielt, damit bin ich nicht ganz einverstanden. Aber sie nehmen sich auch Freiheiten, das ist schön. Eine spannende Aufnahme! Und sie schattieren schön. Ich habe ein paarmal Hammerflügel gespielt, aber ich vermisse dann doch die Farbigkeit. Schön ist natürlich, dass die Balance-Probleme alle gelöst sind, der Pianist kann hier voll reingehen, ich dürfte auf dem Steinway nur mezzoforte spielen. Guter Pianist! Sehr schön gespielt.

Brahms: Klavierkonzert Nr. 1 d-Moll
Krystian Zimerman (Klavier)
Berliner Philharmoniker
Simon Rattle (Leitung) 2003/04

Deutsche Grammophon

Gutes Tempo. Das ist für Dirigenten sehr unangenehm, soll man Halbe oder einen Sechsertakt schlagen. Sehr schöne Farbigkeit. Tolles Orchester! Wenn ich auf meinen Einsatz warte, klinke ich mich manchmal ein Momentchen aus und denke nochmal über meinen Einstieg nach. Aber spätestens hier muss ich drin sein, diese letzte Verzweiflungswelle muss ich mitkriegen, bevor ich dann mit meiner Melancholie einsteige. Diese Figur hier ist meine linke Hand… (Solist setzt ein) Mir gefällt, dass er sich Zeit nimmt. Dieser erste Einstieg braucht Ruhe. Und dann muss es kommen. Der Rhythmus, der sich nicht ändern lässt, das Schicksalsrad dreht sich immer weiter. Sehr feine Bläser! Es wird ein bisschen langsamer jetzt, das müsste nicht sein. Aber dieser Sonnenaufgang ist sehr schön, es ist immer schade, wenn das Maestoso zu schnell genommen wird. Und jetzt das Religioso, ein schlichter Choral, Bach, hier kann es sich öffnen, es könnte ein bisschen wärmer sein. Aber sehr schön gespielt. Mit dem Orchester und dem Dirigenten habe ich das schon gespielt? Ist das Krystian Zimerman mit den Berlinern und Rattle? Das hätte ich nicht gedacht. Ich hab es mit Simon ein paar Mal gemacht, ich meine, wir hätten mehr Schwung gehabt im ersten Tutti. Das lag vielleicht an Zimerman. Das Schöne mit Simon ist, dass er wirklich auf den Solisten eingeht. Und Krystian Zimerman ist ein toller Pianist.

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