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Opern-Kritik: Oper Frankfurt – Oedipe

Die männliche Elektra

(Frankfurt/Main, 8.12.2013) Wiederentdeckung des Jahres – George Enescus grandiose Antikenoper Oedipe kann es mit Richard Strauss aufnehmen

vonPeter Krause,

Diese Oper muss man spielen. Sie gehört endlich wiederentdeckt und mutig für die Gegenwart befragt. Erstens, weil sie über grandiose Musik verfügt – einen schillernden, komplexen, klangfarblich überreichen Orchestersatz und dazu klar gearbeitete, sanglich dankbare Partien. Enescu versöhnt in seinem 1936 an der Pariser Opéra Garnier uraufgeführten Meisterwerk Oedipe die deutsche mit der französischen Klangtradition, führt gleichsam die genetischen Linien von Wagner und Debussy zu einem dritten Weg zusammen, der frisch begrünt wird mit seinem ureigenen rumänischen Ton, einem Schuss Folklorefarben also, wie sie auch sein ungarischer Freund und Kollege Bartók seiner Musik beizumischen wusste. Qualitativ steht Enescus Musik auf einer Stufe mit seinem Zeitgenossen Richard Strauss, bei der jetzigen Frankfurter Erstaufführung mag man zudem an Schreker oder Zemlinsky denken. Da hier statt des französischen Originals nun eine deutsche Textfassung gesungen wird, rückt das klangliche Gesamtbild erstaunlich deutlich in die Nähe zu Strauss – die Partitur klingt konsonantenreicher, härter, expressionistischer, weniger impressionistisch, weniger mittelstimmenfiligran, rhythmisch feingliedrig und polyphon austariert also. Am Pult des hoch motivierten, hingebungsvoll musizierenden Frankfurter Museums- und Opernorchesters hebt Alexander Liebreich die wuchtig süffige Seite der Musik hervor, man lauscht gebannt, was da alles aus dem Graben kommt, staunt über originell oszillierende Holzbläsermischungen und über den großartig durchgehaltenen krimiprallen Spannungs-Sog.

Zweitens muss man diese Oper spielen, weil ihr antikisierter Stoff um Oedipus, der seinen Vater mordet und seine Mutter ehelicht, im Lichte heutiger Hirnforschung und damit neu belebter philosophischer Diskurse eine verblüffende Aktualität erfährt. Denn die von der Sphinx gestellte Frage, wer oder was denn größer als das Schicksal sei, beantwortet Oedipe ganz aufgeklärt mit „der Mensch“. Diesen modernen Anspruch auf Selbstbestimmtheit, auf den freien Willen des Einzelnen sieht Oedipe freilich an sich selbst enttäuscht: Das Geschick holt ihn ein, er lebt wie vorhergesagt in tragischer Konsequenz, seine „Ich-Haftigkeit“ war nicht mehr als die enttäuschte Hoffnung eines Forschenden, der nach der Erkenntnis strebte, was die Welt im Innersten zusammenhält: Ist es wirklich das vorbestimmte Geschick? Welch‘ schreckliche, archaische Botschaft!

Und welche Herausforderung an einen klugen Musiktheater-Regisseur, nun dieser philosophischen Fragestellung ihre bühnenwirksame, sinnlich-intellektuelle Evidenz zu verschaffen. Die Grundidee des Teams um den einstigen Regie-Revoluzzer Hans Neuenfels scheint triftig: Sein Oedipe ist als junger Wissenschaftler umgeben von Schultafeln mit allerhand mathematischen Gleichungen, binomischen Formeln und anderen Grausamkeiten, die den Geist abzählbar machen und den Zufall eliminieren wollen. Der Sänger des Oedipe schaut nun der Geburt der Titelfigur aus einem Riesenei am Beginn der Oper mit dem Interesse eines Archäologen zu, der sich den uralten Mythos aneignen will. Unversehens wird er in die Geschichte hineingezogen, die Vergangenheit bemächtigt sich der Gegenwart. Am neugierigen Wissenschaftler vollzieht sich die Geschichte vom Königssohn bis zu ihrem bitteren Ende, dem Scheitern der Hauptfigur. Der dem Mythos einen erleichternden Erlösungsgedanken verleihende Schlussakt der Oper ist in Frankfurt gestrichen – ein Zeichen der kompromisslosen, desillusionierten Sicht der Interpreten. Das Aufgeben der Werk-Integrität müssen Enescu-Fans (zu einem solchen wird man an diesem Abend flugs – dank der überwältigenden musikalischen Güte des Werks) bedauern, dramaturgisch ist sie aber nachvollziehbar.

Szenisch entfaltet der Abend aus anderen Gründen keinerlei Dringlichkeit. Er ist zwar mit hübschen Kostüm-Zeitsprüngen aufgepeppt – von der extra lächerlichen Sandalenfilm-Klamottigkeit des an Strauss‘ Herodes erinnernden König Laios bis zu der leibhaftigen Punker-Truppe, die den ordentlich onanierenden geilen alten Bock begleitet und womöglich die aktualisierte Personifizierung der rächenden Erinnyen darstellen soll. Doch solche einstmaligen Aufreger aus der Mottenkiste des ollen Regietheaters aus Neuenfels‘ längst vergang’ner bester Zeit, die mit seiner Frankfurter Aida in die Geschichtsbücher des Musiktheaters eingegangen ist, sie wirken hier nur mehr als Accessoires, als bemühte Beigaben zu einer einfallsarmen Inszenierung, der die Kraft zur präzisen Personenregie schmerzlich abgeht. Neuenfels erzählt mit diesen Zutaten keine Geschichte, er entfaltet keine Dynamik der Zeitkontraste, und er entwickelt kaum Figuren, die über Klischees hinausgehen würden.

Zumal den großartigen Sänger des Oedipe lässt der Regisseur im Regen seines Leids stehen. Simon Neal singt ihn dafür mit nie enden wollender, sich nur noch immer weiter steigender heldenbaritonaler Intensität, angesichts der wahrlich wotanesken Anforderungen der Partie ist das eine umwerfende Gesangsleistung. Ein auch szenisches Ausnahmeereignis ist freilich aus dem ausnahmslos gut besetzten Hausensemble zu vermelden: Der junge Mezzo Katharina Magiera girrt nicht nur mit wunderschön verruchtem Diseusen-Ton, die Sängerin macht aus der Szene der Sphinx auch die treffende Studie einer prallen Eros-Erda. Zu hoffen bleibt, dass alsbald andere Häuser Frankfurts Mut teilen und Oedipe spielen, dafür dann aber mit mehr Regie-Fortune belohnt werden.

Oper Frankfurt

George Enescu: Oedipe

 

Ausführende: Alexander Liebreich (Leitung), Hans Neuenfels (Inszenierung), Rifail Ajdarpasic (Bühne), Elina Schnitzler (Kostüme), Simon Neal, Magnús Baldvinsson, Dietrich Volle, Michael McCown, Vuyani Mlinde, Kihwan Sim, Andreas Bauer, Hans-Jürgen Lazar, Tanja Ariane Baumgartner, Katharina Magiera, Britta Stallmeister, Jenny Carlstedt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester, Chor und Extrachor der Oper Frankfurt

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