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Opern-Kritik: Aalto-Musiktheater Essen – Wozzeck

Zweite Chance für den Verlierer

(Essen, 25.5.2024) Regisseur Martin G. Berger wertet am Aalto-Musiktheater Essen einige Nebenaspekte in Büchners Schauspiel und Bergs Oper zu zentralen Deutungsschlüsseln auf. Das verleiht diesem „Wozzeck“ einen spannenden Perspektivwechsel.

vonMichael Kaminski,

Rigoletto? Pagliacci? Zuweilen besteht Versuchung, auf der Eintrittskarte oder im Programmheft nachzuschauen, ob dort auf der Bühne tatsächlich „Wozzeck“ gegeben wird. Das aber ist der Fall. Nur wertet Regisseur Martin G. Berger einige Nebenaspekte in Büchners Schauspiel und Bergs Oper zu zentralen Deutungsschlüsseln auf. Wozzecks kurze Begegnung mit dem Narren im zweiten Akt veranlasst ihn, die Figur auf ein Terzett aus Sängerin, Schauspielerin und Tänzer auszuweiten. Die Närrinnen und Narren sind keine anderen als die Visionen und Stimmen, die dem Antihelden beständig zusetzen. Bei Berger freilich nicht übelwollend, vielmehr in der Absicht, ihn auf ihre Seite zu ziehen, damit er lerne, sich von den Zumutungen der gesellschaftlich über ihm Rangierenden zu befreien; sie als Popanze verlache. Tatsächlich willigt Wozzeck in die Metamorphose ein und steigt in ein solch prächtiges Spaßmacherkostüm, wie es selbst am Herzogshof zu Mantua reüssiert hätte.

Szenenbild aus Alban Bergs „Wozzeck“ am Aalto-Musiktheater Essen
Szenenbild aus Alban Bergs „Wozzeck“ am Aalto-Musiktheater Essen

Wozzecks veränderte Weltsicht

Die äußerliche Maskerade wird entbehrlich, sobald der Rollenwechsel sich innerlich vollzogen hat. Final zeigt sich Wozzeck in die Ausgangssituation des Werks – an die Seite Maries und des Kindes – zurück gebeamt. Das Spiel darf von neuem beginnen, indessen dieses Mal unter den Vorzeichen von Wozzecks veränderter Weltsicht. Gleich seinen Narrenkumpanen, wird er einer Ausgeburt von Macho wie dem Tambourmajor die Stirn bieten. Er wird im testosterongesteuerten Männlichkeitsprotz nurmehr den Clown sehen. Gleichwohl ein hervorstechend fieses Exemplar seiner Gattung. Geil, boshaft und gewalttätig nimmt der üble Possen reißende Hanswurst sich, wessen er bedarf. Sein Appetit auf Frauen ist ebenso unersättlich wie sein Sadismus. Obschon ihm die weiße Schminke seiner Clownsmaske immer wieder einen Anhauch von Pagliacci-Canio verleiht. Doch ist auch der in seinem Machismo, seiner Eifersuchtsraserei und geringen Tötungshemmung nicht Ohne. Sei ihm wie ihm sei, final fließt dem von der Narrentruppe verhöhnten Gecken vor Entsetzen die Schminke aus dem Gesicht.

Szenenbild aus Alban Bergs „Wozzeck“ am Aalto-Musiktheater Essen
Szenenbild aus Alban Bergs „Wozzeck“ am Aalto-Musiktheater Essen

Szenische Opulenz

Jenes utopische Moment einer für Wozzeck lebenswerten Zukunft, das Berger mit allem dem ins Spiel bringt, gewinnt vorderhand noch an Glaubwürdigkeit, indem den Akten drei von Bergs einer heilen Welt huldigenden „Sieben frühen Liedern“ vorangestellt werden. Dennoch bleiben Restzweifel: Einfach zu sympathisch kommt die Idee der Überwindung von Herrschaft durch eine Anarchotruppe von Narren daher. Auch reichen Bergs noch an Wolf und Mahler orientierten frühen Lieder kaum an die avantgardistische Energie seiner anderthalb Jahrzehnte danach entstandenen Oper heran. Der Essener „Wozzeck“ kommt in Gestalt großen Ausstattungstheaters über die Rampe. Sarah-Katharina Karl fasst die Spielfläche mit Aberdutzenden schlanker Türmchen als Gehäuse für zahllose zuweilen grell oder immer wieder fröhlich bunt aufleuchtende Lampen ein. Die enormen technischen Möglichkeiten der Essener Bühne zeigen sich weidlich genutzt, so dass das Wirtshausmobiliar wie auch das Ufer des Weihers auf die nach verschiedenen Richtungen hin abschüssige Ebene geraten können. Aus der Versenkung fährt des Doktors Schauerkabinett mit seinen konservierten menschenförmigen Riesenembryonen. Esther Bialas wendet ihren Einfallsreichtum für die Narrenkostüme auf. Oft in Nahaufnahme präsentiert Tabea Rothfuchs auf ihren Videos des Tambourmajors lüsterne und brutale Visage.

Szenenbild aus Alban Bergs „Wozzeck“ am Aalto-Musiktheater Essen
Szenenbild aus Alban Bergs „Wozzeck“ am Aalto-Musiktheater Essen

Dramatische Wucht und formale Strenge

Musikalisch vermag dieser „Wozzeck“ beinahe ebenso zu reüssieren wie szenisch. Der Chor des Hauses unter Klaas-Jan de Groot erweist sich als präzise und durchschlagskräftig. Mit den Essener Philharmonikern bleibt Roland Kluttig weder der theatralen Verve noch der formalen Strenge der Partitur etwas schuldig. Ensemblesäule Heiko Trinsinger verleiht der existentiellen Bedrängnis der Titelfigur bewegenden Ausdruck. Jugendlich-dramatische Verzweiflung tönt ergreifend aus Deirdre Angents Marie. Mit viriler Attacke verkörpert Rodrigo Porras Garulo den Potenzprotz von Tambourmajor. Der Hauptmann von Torsten Hofmann und Sebastian Pilgrims Doktor agieren vokal rollendeckend. Im Narrenkostüm bietet Bettina Ranch für Bergs „Frühe Lieder“ schöne Emphase auf. Raphael Baronner verkörpert den Video-Tambourmajor, dem er unzählige abstoßende Nuancen ins Gesicht zeichnet.               

Aalto-Musikheater Essen
Berg: Wozzeck

Roland Kluttig (Leitung), Martin G. Berger (Regie), Sarah-Katharina Karl (Bühne), Esther Bialas (Kostüme), Tabea Rothfuchs (Video), Klaas-Jan de Groot (Chor), Patrick Jaskolka (Kinderchor), Heiko Trinsinger, Rodrigo Porras Garulo, Aljoscha Lennert, Torsten Hoffmann, Sebastian Pilgrim, Andrei Nicoara, Karel Martin Ludvik, Deirdre Angenent, Bettina Ranch, Katharina Brehl, Jonas Onny, Mario Tardivo, Michael Matrosov, Raphael Baronner, Maddy Reinhard, Dean Bartusek, Boris Gurevich, Opernchor des Aalto-Theaters, Aalto Kinderchor, Essener Philharmoniker




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