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Opern-Kritik: Baltic Opera Festival: Der fliegende Holländer & Lottery for Husbands

Reinigung, Magie und Reinheit

(Danzig / Sopot, 14.7.2023) Im Opernparadies mit historischer Hypothek bewirkt der polnische Wagnerstar Tomasz Konieczny ganz Großes. Das „Bayreuth des Nordens“ will die dunklen Jahre seiner Geschichte überwinden.

vonRoland H. Dippel,

Zu viel Magie hat die „Zoppoter Waldoper“ für ihre belastende Vorgeschichte. Aber einige Visionäre zogen mit bei dieser Idee. Die Waldbühne Sopot mit 5000 Plätzen sollte wieder zum Opernfestspiel-Platz werden – nach langer Unterbrechung im Sozialismus, einigen Neuversuchen und der Bedachung des Riesenareals in Höhenlage über dem baltischen Ferienort bei Danzig. Von 1909 bis 1942 gab es dort sommerliche Festspiele mit „Der Freischütz“, „Hänsel und Gretel“, heute Vergessenem wie Thuilles „Lobetanz“ und Kreutzers „Das Nachtlager in Granada“. Unter die Jubelhymniker zur magischen Akustik und Aura des Ortes reihen sich Erich Kleiber, Hans Knappertsbusch und die jüdische Hochdramatische Frida Leider. Handicap: Die Wagner-Hochburg, auf der bisher alle Hauptwerke außer „Tristan und Isolde“ erklangen, war in dem umkämpften polnischen Gebiet während des Zweiten Weltkriegs bis 1942 als „Reichswichtige Festspielstätte“ auch nationalsozialistischer Propagandaplatz. Der schwarze Vergangenheitsfleck ist bis heute nicht verblasst und belastet dieses „Bayreuth des Nordens“ empfindlich.

Die Naturbühne im idyllischen Bade- und Kurort Zoppot
Opera Leœna.
01.05.2023
fot. Krzysztof Mystkowski / KFP

Fantastische Aura und Akustik

Nach dem Besuch der Orchesterhauptprobe und Generalprobe von „Der fliegende Holländer“ bestätigt sich: Trotz des neuen Dachsegels und der für die letzten Tribünenreihen unter der Empore minimal verstärkten Solostimmen hat sich die Wunderakustik nahezu pur erhalten. Die von Marek Janowski bei seinem – man glaubt es nicht – allerersten „Holländer“ kompetent, streng und effizient gesteuerten baltischen Musikerinnen und Musikern spielten zum Staunen und Freuen. Jeder Bläserton, jeder Bogenstrich hat hier in den sommerlichen Abendstunden einen etwas längeren Nachklang. Das macht aus dem rauen Jugendstreich ein elegisches Weihestück, gibt dem Wagner-Kosmos noch mehr Fülle und mehr Charisma. Hier spürt man eine Verzauberung, die nachwirkt. In Hinblick auf die akustische Suggestion ist die Waldoper das „baltische Macerata“, in Hinblick auf die sinnhafte Dramaturgie der Dekoration „das baltische Bregenz“. Das Attribut „Bayreuth des Nordens“ verdient die Waldoper Sopot also weitaus mehr als andere Bühnen.

Dirigierte seinen ersten „Holländer“: Marek Janowski
Dirigierte seinen ersten „Holländer“: Marek Janowski

Hypnose und Heilung von der Historie

Hypnose und Heilung von der Historie sind hier eine energisch geschulterte Bürde. Die Idee zu dieser Festspiel-Renaissance der riskanten Art hatte der in Bayreuth und weltweit gefeierte Bariton Tomasz Konieczny. Er liebt Wagner UND die Kultur seiner Heimat. Außerdem zeigt er Lust auf Projekte wie die Weltersteinspielung von Antal Doratis Oper „Der Künder“. Jetzt ist Konieczny der Fitzcaraldo für das „Bayreuth des Nordens“. Als künstlerischer Leiter hat er dazu zwei Kniffe, einen inszenatorischen und einen konzeptionellen. Im Sinn des antiken Theaters vereinte er Tragödie und Komödie. Neben die Eigenproduktion von Wagners „Der fliegende Holländer“ (den er in der Generalprobe unvorhergesehen und inbrünstig selbst sang) stellte er das ungewöhnliche Werk eines polnischen Komponisten.

Dafür holte er die Uraufführungsinszenierung von Karoly Szymanowkis einziger Operette „Die Männerlotterie oder Heiratskandidat Nr. 69“ als Gastspiel und Appetizer für‘s repräsentative Opening in das Danziger Opernhaus. Ein virtuoser wie intellektueller Schachzug: Mit diesem Musiktheater-Doppel sicherte Konieczny sich internationale Aufmerksamkeit. „Die Männerlotterie“ ist das Werk eines polnischen Komponisten, dessen sexuelle Identität in seinem Heimatland noch immer verdrängt wird. Mit der Operette aus dem Jahr 1908 als Negligé auf den üppigen Wagner-Körper in der Waldoper signalisierte Konieczny, dass es ihm um mehr geht als um Event und Berauschung.

Festivalleiter Tomasz Konieczny (Mitte) am Premierenabend
Festivalleiter Tomasz Konieczny (Mitte) am Premierenabend

Szymanowski-Uraufführung als Gastspiel

Seit der Krakauer Premiere und Uraufführung von „Die Männerlotterie“ 2007 hat sich einiges an internationaler Operetten-Aufarbeitung und Erschließung getan. Gewiss ist die Neudichtung der verlorenen Dialoge durch Wojciech Tomczyk für das Textbuch von Julian Krzewiński-Maszyński eine Pionierleistung. Diese macht das Stück, welches Szymanowski nicht in sein Werkverzeichnis aufnahm, erst aufführungsbereit. Erstmals erschien das Notenmaterial 2012 in Druck. Es versteht sich, dass der Regisseur Marcin Sławińsk die heute ins Auge stechenden queeren Akzente der Handlung nicht bebilderte. Diese ergeben sich auf den zweiten Blick: Das junge Paar Darly und Sara kriegt sich. Dabei sträuben beide sich gegen die normativen Vorstellungen der sie anstupsenden Vereine der „Reifen Fräuleins“ und „Lustigen Witwer“. Der amerikanische Modezar Tobias Helgoland gewinnt auch ein spätes Glück. Der lyrisch-kernige Tenor Adrian Domarecki als Darly ist der vokale Bringer des Abends und Justyna Khil als Sara eine eroberungswillige Spröde mit klaren Ansagen gegen Jungmädchenträume von gestern.

Dramaturgie nach Bregenzer Musik: Rares für geschlossene Räume, Populäres für die Waldbühne

Die Technikverliebtheit von 1908 bekommt man in einem Fotostudio zu sehen (Szymon Raczkowski als sympathischer Drahtzieher Charly), die der Gegenwart durch ein animiertes Nostalgie-Porträt des Komponisten Szymanowski. Dieses erzählt zu Beginn den Figuren und dem Publikum über sein originelles Operettenprodukt. Man sieht späte Tournüren und Reformkleider in Pastelltönen (Chełkowska-Wolczyńska), dazu leicht beschwingte Gruppenbewegungen ohne Champagner. Die Krakauer Chor-, Tanz- und Orchester-Kollektive zeigen eher die Nähe Szymanowskis zum frivol-filigranen Operettenton des jungen 20. Jahrhunderts als die funkelnde Satire. Gefällige Konfektion mit konzeptionellem Anspruch. Da bahnt sich beim mit dieser ersten Runde fulminant eröffnetem Baltischen Opernfestival eine Dramaturgie nach Bregenzer Muster an: Rares für geschlossene Räume, Populäres für die Waldbühne.

Andrzej Dobber als Holländer beim Baltic Opera Festival
Andrzej Dobber als Holländer beim Baltic Opera Festival

Glanzvolle Stunde Null

In der Waldoper begann das große Aufräumen. Das Kreativteam ließ sich etwas einfallen: Die Schiffsmannschaft des Geldbürgers Daland (kongenial knarzig: Franz Hawlata) steckt in einem riesigen Badebottich, wird dort von den Sopoter Wäsche-Chorfrauen gründlich eingeseift und abgeschrubbt. Senta träumt von einem blütenweißen Mann, hält ihren recht bodenständigen Ex Erik (heroisch und höhensicher: Stefan Vinke) vom Selbstmord ab und schlitzt sich statt Todessprung den Hals auf. Am Ende rufen sie Lichtsäulen aus dem Wald ins reine Jenseits. Der Holländer wurde mit harmonischer Hochstimmung gegen den Wagner-Strich gebürstet: Kein düsterer Held im dunklen Gewand war er, sondern ein Elfenkönig mit Tanztheater-Gefolge und absolut glaubwürdig als Stunde Null der Wagner- und Waldoper-Reinigung.

Janowski galt nie als Wagner-Hypnotiseur, in seinen besten Momenten dafür immer als schlank akzentuierender Musik-Rhetoriker. Hier ließ er sich verführen zu Fülle und Glanz. Trotz der durch die strahlende Ricarda Merbeth mit den Holländer-Lichtalben angetriebenen Großartigkeit hörte man kein untergangs- und erlösungseliges Raunen, sondern einen dionysisch-sinnlichen Rausch. Ein Wagner-Hoffnungsdämmern der überlegenen und dabei ernsthaften Art. Wie das junge Baltic Opera Festival die dunklen Jahre seiner Geschichte überwinden, aber nicht verdrängen will, hat Format. Das kann nicht in einem Anlauf geschehen und braucht etwas Zeit. Die Zeichen dafür stehen in Sopot bestens.

Baltic Opera Festival
Szymanowski: Lottery for Husbands, or Fiancé No. 69

Piotr Sułkowski (Leitung), Marcin Sławiński (Regie), Natalia Kitamikado (Bühne), Izabela Chełkowska-Wolczyńska (Kostüme), Jarosław Staniek, Katarzyna Zielonka (Choreographie), Ada Bystrzycka (Licht), Janusz Wierzgacz (Chor), Stanisław Zaleski (Multimedia), Jędrzej Rusin (Sound Effekte), Tomasz Kuk, Szymon Raczkowski, Adrian Domarecki, Piotr Maciejowski, Stepan Drobit, Jakub Foltak, Damian Wilma, Jan Kubas, Magdalena Barylak, Justyna Khil, Justyna Bluj, Laura Wąsek, Teresa Marut, Magdalena Stefaniak, Martyna Dwojak, Emilia Rabczak, Chor der Oper Krakau, Orchester der Oper Krakau

Wagner: Der fliegende Holländer

Marek Janowski (Leitung), Tomasz Konieczny (Konzept & künstlerische Gesamtleitung), Łukasz Witt-Michałowski, Barbara Wiśniewska (Regie), Boris Kudlička (Konzept Ausstattung), Natalia Kitamikado (Bühne), Dorothée Roqueplo (Kostüme), Bogumił Palewicz (Licht), Bartek Macias (Multimedia), Jacek Przybyłowicz (Choreographie), Andrzej Dobber, Ricarda Merbeth, Franz Hawlata, Stefan Vinke, Małgorzata Walewska, Dominik Sutowicz, Chor der Baltischen Oper, Tanzensemble der Baltischen Oper, Orchester der Baltischen Oper

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