Imposant, dieser riesige rechteckige Raum: Auch beim erneuten Betreten wirkt die Weite von Hangar 4 im ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof überwältigend. Nunmehr zum dritten Mal lädt die Komische Oper Berlin zu ihrer ersten Premiere der neuen Spielzeit in diese Außenspielstätte. Wegen der langwierigen Sanierung ihres Stammhauses in Berlin-Mitte ist sie gerade im Interimsquartier Schillertheater im Stadtteil Charlottenburg untergebracht. Diese Phase des jahrelangen Provisoriums wird genutzt, um mit einigen Produktionen an außergewöhnliche Orte zu gehen. Nach Hans-Werner Henzes „Das Floß der Medusa“ 2023 und Georg Friedrich Händels „Messiah“ 2024 steht im Flughafen Tempelhof jetzt „Jesus Christ Superstar“ von Musical-Großmeister Andrew Lloyd Webber auf dem Programm. Noch vor seinen Erfolgen „Evita“, „Cats“ und „Das Phantom der Oper“ zeigte sich Lloyd Webber zusammen mit Librettist Tim Rice als junger Wilder 1971 mit „Jesus Christ Superstar“, indem er die biblische Passionsgeschichte in eine Rockoper packte. Für die beiden Künstler wurde das Stück zum Durchbruch.

Im Setting eines Rockkonzerts
Rockoper – das lässt sich Regisseur Andreas Homoki für seine Neuinszenierung im Flughafen Tempelhof nicht zweimal sagen. Er erzählt das Stück im Setting eines Rockkonzerts. Dafür konnte er als Bühnenbildner seinen Regie-Kollegen Philipp Stölzl gewinnen. Dieser hat einschlägige Rock- und Pop-Erfahrung durch seine Musikvideos, etwa mit Rammstein, Madonna, Rosenstolz und Die Ärzte. So wird einiges an diversen Lichteffekten aufgefahren. Auf einem Podium ist eine Band vor dem Orchester positioniert, eine Treppe führt davon auf einen Bühnensteg. Der Clou im Regiekonzept: Dieser wird umrundet von einem vielköpfigen Bewegungschor, einer Menge aus 350 Amateur-Tänzerinnen und -Tänzern aus der Region und dem Chor der Komischen Oper. Sie alle stellen das Publikum des von der Regie und Bühnenbild behaupteten Rockkonzerts dar.

Der Chor in multipler Rolle
Doch letztlich geht dieses Konzept nicht ganz auf. Auf der riesigen Spielfläche wirkt diese Menge, vor allem wenn sie sich an den Bühnensteg drängt, nur selten als Masse eines Rockevents. Dafür hätte es noch mehr Menschen gebraucht. Nur in wenigen Augenblicken vermittelt sich tatsächlich die Illusion eines Publikums, das bei einem Rockkonzert mitfiebert. Mitunter wirkt es eher wie eine Ü 30-Party. Zudem sind diese Mitwirkenden historisch kostümiert, wie in einem Sandalenfilm. Schließlich sollen sie auch die Bevölkerung in der Passionsgeschichte spielen. Dieses Schillern funktioniert nicht. Allenfalls überzeugt die Masse als Resonanzkörper der Stimmungen und Emotionen der einzelnen Szenen. Da wäre sogar etwas mehr Abstraktion in der Inszenierung wirkungsvoller gewesen.

Jesus und Judas: eine konsequent ausgearbeitete Beziehung
Markant sind hingegen sämtliche Solisten. Dies liegt nicht zuletzt am prägnanten, aussagekräftigen Kostümbild von Frank Wilde. Noch am traditionellsten gezeichnet sind Jesus und Judas, beide mit Bart und langen Haaren. Jesus ist weiß gewandet, Judas schwarz gekleidet. Beide sind das jeweilige Gegenstück des anderen. Diese Beziehung wird auch in der Personenregie unterstrichen, beide begegnen sich stets auf Augenhöhe, wie zwei gleichberechtigte Partner. Das ist nur konsequent: ohne den Judaskuss keine Kreuzigung und damit keine Auferstehung. In der Szene, wenn Judas sich aus Verzweiflung über die Tragweite seines Verrats das Leben nimmt, bricht er zusammen und fällt direkt in die Arme von Jesus. Dieser hebt ihn auf, beide blicken sich tief in die Augen, Judas geht ab. Ein starker Moment in der Inszenierung. So wie beim Suizid des Judas kein Erdrosseln gezeigt wird, wird überhaupt auf das Reproduzieren von effekthascherischer Brutalität auf der Bühne verzichtet. Ein großes Kreuz steht als leuchtendes Mahnmal in Rocker-Nietenoptik am Anfang und Ende des Abends auf der Rampe, Jesus hängt aber nicht am Kreuz, sondern steht am Schluss auf der Treppe vor Band und Orchester. Und die Szene mit den 39 Peitschenhieben vorher hat eine eindrucksvolle stilisierte Lösung mit Pyrotechnik und kommt ohne Kunstblut aus.

Ironisierungen der Bildwelten des Rock
Die übrigen Figuren der Handlung sind teils modern überschrieben, Klischees werden gekippt, assoziationsreich wird mit popkulturellen Referenzen gearbeitet. Maria Magdalena, in roten Roben, ist glatzköpfig, herkömmliche erotische Stereotype werden damit ausgehebelt. Gleichzeitig eröffnet diese Irritation der erwarteten Physiognomie Fragen und Assoziationen. Wurde sie mit dem Scheren der Haare bestraft? Hat sie sich selbst in einem Akt der Emanzipation die Haare rasiert? Die Hohenpriester sind als dunkle Macht angelegt, einer Mischung aus Darth Vader und Fetisch-SM-Look. Der diese Gruppe begleitende Saxofonist trägt sogar eine schwarze Gummi-Hundemaske. Noch stärker gegen den Strich gebürstet ist die Figur des römischen Statthalters Pontius Pilatus: Statt römischer Toga trägt er eine goldglitzernde Travestie des Militärischen mit Schildkappe und Offiziersmantel, eine glamouröse Karikatur einer Besatzungsmacht. König Herodes wiederum kommt als Rock-Diva wie einst Freddie Mercury von Queen, Oberkörper entblößt, in Lederhose und violettem Umhang mit überdimensionierter Schleppe. Und seine Entourage scheint einem Manga-Comic entstiegen zu sein. Solche Ironisierungen von Bildwelten des Rock setzen sich in der Band fort: Die beiden Gitarristen der Band haben große farbenprächtige Irokesenperücken verpasst bekommen.

Starkes Charisma der Solisten
Sämtliche Solisten füllen ihre Partien mit beeindruckender Präsenz und mit Charisma aus. John Arthur Greene als Jesus beherrscht meisterhaft das Belting der Rockmusik, dieses Schmettern mit voller Kraft in hohen Registern. Gleichzeitig berührt er mit differenzierten Emotionen und mit Zartheit in der Stimme. Großartig etwa die Szene im Garten Gethsemane zwischen Zweifeln, Wut und Entschlossenheit. Sasha Di Capri als Judas ist eine richtige Rockröhre, kraftvoll und voller Intensität. Ilay Bal Arslan bringt in die Partie der Maria Magdalena warme Jazz-Nuancen, was eine besondere Glut entfaltet. Daniel Dodd-Ellis als Priester Kajaphas überzeugt mit kernig-sonorer Gestaltung, die das Bedrohliche dieser Figur und ihrer Begleiter unterstreicht. Jörn Felix Alt gibt wunderbar verspielt und outriert den Marionettenkönig Herodes. Er ist ein selbstherrlicher Draufgänger ohne tatsächliche Wirkungsmacht, passend zu seiner Musik mit hektischem Vaudeville-Charme. Es wird klar, diese übertriebene Extravaganz braucht diese Figur, um nicht zu implodieren. Kevin(a) Taylor schließlich glänzt in einer facettenreichen Gestaltung des Pontius Pilatus: Von pompöser Arroganz, aufblitzender Menschenverachtung und Unsicherheit bis hin zu Mitleid und Verzweiflung, weil er diesen Jesus, an dem er keine Schuld finden kann, den Hohen Priestern ausliefern muss.
Schon wegen all dieser hervorragenden Solisten lohnt sich der Abend. Auch erfreulich und keine Selbstverständlichkeit: Band, Solisten, Chor und Orchester – in der riesigen Spielstätte ist elektronische Verstärkung nötig – sind sehr gut akustisch gemischt und ausbalanciert. Die Band ist einfach phänomenal, das Orchester hat den passenden runden Klang, der Chor passt stimmig dazu mit homogenen und atmosphärischen Einsätzen. So interpretiert, wirkt diese Musik, die über ein halbes Jahrhundert alt ist, noch immer sehr stark.
Komische Oper Berlin / Flughafen Tempelhof – Hangar 4
Lloyd Webber: Jesus Christ Superstar
Koen Schoots (Leitung), Andres Homoki (Regie), Philipp Stölzl (Bühnenbild), Franziska Harm (Künstl. Mitarbeit Bühnenbild), Frank Wilde (Kostüme), Sommer Ulrickson (Choreografie), Olaf Freese/Florian Schmitt (Licht), Holger Schwark (Sounddesign), John Arthur Greene (Jesus von Nazareth), Sasha Di Capri (Judas Ischariot), Ilay Bal Arslan (Maria Magdalena), Kevin(a) Taylor (Pontius Pilatus), Daniel Dodd-Ellis (Kajaphas), Michael Nigro (Hannas), Oedo Kuipers (Petrus), Dante Saénz (Simon Zelotes), Jörn Felix Alt (Herodes) u. a., Tanzensembles, Arnulf Ballhorn (E-Bass), Benjamin Schwenen (Gitarren), Ralf Templin (Gitarren), Hendrik Havekost (Drumset), Jarkko Riihimäki (Keyboards), Robert Paul (Keyboards), James Scannell, (Saxofon), Chor der Komischen Oper Berlin, David Cavelius (Choreinstudierung), Orchester der Komischen Oper Berlin
So., 21. September 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Lloyd Webber: Jesus Christ Superstar
Ryan Vona (Jesus Christ), Ryan Shaw (Judas Iscariot), Ilay Bal Arslan (Mary Magdalene), Kevin(a) Walker (Pontius Pilate), Daniel Dodd-Ellis (Caiaphas), Michael Nigro (Annas), Koen Schoots (Leitung), Andreas Homoki (Regie)
Sa., 27. September 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Lloyd Webber: Jesus Christ Superstar
John Arthur Greene (Jesus Christ), Sasha Di Capri (Judas Iscariot), Ilay Bal Arslan (Mary Magdalene), Kevin(a) Walker (Pontius Pilate), Daniel Dodd-Ellis (Caiaphas), Michael Nigro (Annas), Kai Tietje (Leitung), Andreas Homoki (Regie)
So., 28. September 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Lloyd Webber: Jesus Christ Superstar
John Arthur Greene (Jesus Christ), Sasha Di Capri (Judas Iscariot), Ilay Bal Arslan (Mary Magdalene), Kevin(a) Walker (Pontius Pilate), Daniel Dodd-Ellis (Caiaphas), Michael Nigro (Annas), Koen Schoots (Leitung), Andreas Homoki (Regie)
Di., 30. September 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Lloyd Webber: Jesus Christ Superstar
Ryan Vona (Jesus Christ), Ryan Shaw (Judas Iscariot), Ilay Bal Arslan (Mary Magdalene), Kevin(a) Walker (Pontius Pilate), Daniel Dodd-Ellis (Caiaphas), Michael Nigro (Annas), Koen Schoots (Leitung), Andreas Homoki (Regie)
Mi., 01. Oktober 2025 19:30 Uhr
Musiktheater
Lloyd Webber: Jesus Christ Superstar
John Arthur Greene (Jesus Christ), Sasha Di Capri (Judas Iscariot), Ilay Bal Arslan (Mary Magdalene), Kevin(a) Walker (Pontius Pilate), Daniel Dodd-Ellis (Caiaphas), Michael Nigro (Annas), Koen Schoots (Leitung), Andreas Homoki (Regie)