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Opern-Kritik: Oper Frankfurt – Elektra

Der Blick nach Innen

(Frankfurt am Main, 19.3.2023) Claus Guth inszeniert an der Oper Frankfurt eine packend ambivalente „Elektra“ von Richard Strauss. GMD Sebastian Weigle lässt sich musikalisch sensibel und mit viel hörbar gemachten Details auf die szenische Lesart ein.

vonJoachim Lange,

Regisseur Claus Guth vollendet mit dieser „Elektra“ an der Oper Frankfurt das halbe Dutzend seiner Richard-Strauss-Inszenierungen. Er wusste also längst aus Erfahrung, worauf er sich einlässt und wozu er sein Publikum verführt, wenn er sich jetzt der exemplarischen Rächerin unter den Strauss-Frauen nähert.

Dass er sich nicht darauf herausreden würde, sich auf die Bühne zu verlassen, war klar. Also weder auf die Übermacht der Wirkung eines Groß-Symbols der Fixierung auf die Rache für den Mord am Vater (was Harry Kupfer mehrfach durchdekliniert hat), einen düsteren Palasthof (wie Patrice Chéreau) oder, wie vor kurzem in Genf, die technisch-martialische Extremvariante eines (von Ruth Berghaus eingeführten) metaphorischen Elektra-Turms, mit der Ulrich Rasche seinen Maschinenpark erweitert hat. Auch im Bühnenbild von Katrin Lea Tag und mit den Kostümen von Theresa Wilson bleibt Claus Guths Streben nach Klarheit und ästhetischer Stringenz unverkennbar.

Szenenbild aus „Elektra“ an der Oper Frankfurt
Szenenbild aus „Elektra“ an der Oper Frankfurt

Im Programmheft-Interview postuliert der Regisseur selbst den Anspruch, dass sich dieser Einakter (ganz ähnlich wie der Vorgänger „Salome“) wie ein Rausch anfühlen muss und dem Zuschauer keine Chance bleiben sollte, abzuschweifen. Dass man beim ersten Blick auf die Bühne, die nur aus Vorhangelementen besteht, mit einem leisen Zweifel einsteigt, ob das diesmal – neben der musikalischen Faszination – auch szenisch gelingen kann, erweist sich natürlich alsbald als falsche Fährte. Die szenische Entdeckungsreise versucht nicht, das irgendwie realistisch anmutende Umfeld eines Königshofes zu erkunden, sondern sie nimmt die Zentralfigur selbst ins Visier. Und nimmt uns mit auf eine Reise in deren Psyche. Vorbei an vergeblichen Therapieversuchen inklusive einer atemberaubenden Selbstsuggestion bis hin zu deren Scheitern.

Auf der Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit

Die dominierenden Vorhänge sind zunächst bewegliche Elemente mit Fototapete, mit Lücken dazwischen, Notausgangstüren und einem geheimnisvollen Stuhl, der immer dann beleuchtet wird oder in die Höhe geht, wenn vom herbeigesehnten rächenden Bruder Orest die Rede ist. Später senkt sich ein Vorhang aus Fäden herab, den man durchschreiten kann. So wie die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit, die Elektra immer wieder durchbricht. In welche Richtung ist nicht ganz klar, da gibt es sicher unterschiedliche Interpretationen beim Personal dieses imaginären „Vielleicht-Zauberbergs“.

Szenenbild aus „Elektra“ an der Oper Frankfurt
Szenenbild aus „Elektra“ an der Oper Frankfurt

Wenn hier zur Gruppentherapie oder in den Gemeinschaftsraum zum gemeinsamen Fernsehabend gebeten wird, dann bleibt es auf spannende Weise in der Schwebe, wer hier zu den Patienten und wer zu den Therapeuten gehört. Eins jedenfalls ist glasklar: „Die Vergangenheit ist hier nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ (William Faulkner) Soll heißen: Elektras Vater Agamemnon ist für sie greifbare (bzw. nach ihr greifende) Realität und geistert folgerichtig immer wieder wortlos durch die Szene. Die in vielen Inszenierungen oft im Rausch der Musik untergehende Passage, in der Elektra sich an die dunklen Seiten ihres Vater erinnert, der nicht nur die Schwester opferte, sondern auch sie begehrte, hat man (ohne vordergründige Effekthascherei) selten so deutlich gesehen, wie diesmal. Guth lässt aber auch die Erinnerung an den Bruder (das Kind, wie ihn Elektra nennt) für uns und sie sichtbar erscheinen.

Das Traumbild des Bruders

Der Clou der Inszenierung besteht aber darin, dass Guth den oft ans Herz greifenden Clou des Stückes in die Phantasie Elektras verlegt. Diesmal ist Orest als erinnerter Bruder aus Kindertagen zwar immer wieder präsent, aber der erwachsene Orest kommt nicht wirklich. Er bleibt das Traumbild, das sie sich herbeiphantasiert. Die rächenden Morde an der Mutter und deren Liebhaber begeht sie – wenn sie denn überhaupt tatsächlich begangen werden und nicht nur die Krönung der Selbsttherapie sind, in die Elektra hineingezogen wird. Guth hat das Wort vom Traumbild und Elektras Behauptung, die Musik komme aus ihr, einfach beim Wort genommen.

Szenenbild aus „Elektra“ an der Oper Frankfurt
Szenenbild aus „Elektra“ an der Oper Frankfurt

Eine großartige Besetzung, wie sie dem aktuellen Opernhaus des Jahres angemessen ist

Der Regisseur und GMD Sebastian Weigle haben für diesen Psychotrip eine Besetzung beisammen, wie sie dem aktuellen Opernhaus des Jahres angemessen ist: vor allem in den drei Frauenpartien ist sie großartig. Die estnische Sopranistin Aile Asszonyi ist eine Elektra von so sinnlicher Strahlkraft, die die Ausbrüche ohne jeden Überdruck zustande bringt und dabei mit wenigen Mitteln Hinterlist andeutet, wenn sie versucht, ihre Mutter aufs Glatteis zu führen. Susan Bullock kommt als Klytämnestra ohne jeden Rückgriff aufs Furienhafte aus. Sie ist hier, wie auch die sich nach Mann und Kindern sehnende Jennifer Holloway als Chrysothemis, einer der weiteren, nur anders gelagerten Fälle psychischer Folgen unbewältigter Vergangenheit. Vokal und darstellerisch sind diese drei „Fälle“ ein Hochgenuss. (Was ja vielleicht auch schon ein Fall für kritische Nachfragen ist…)

Szenenbild aus „Elektra“ an der Oper Frankfurt
Szenenbild aus „Elektra“ an der Oper Frankfurt

Bei so viel erstklassiger Frauenpower (zu der auch die beispielhaft wortverständlichen Mägde und deren Aufseherin, die Vertraute und die Schleppenträgerin ihren Beitrag leisten) haben es die Männer schwer. Für den markant hör-, aber kaum sichtbaren Simon Bailey war das Einspringen hier sicher kein großes Problem. Peter Marsh hat als Aegisth (der möglicherweise Klinikleiter ist) mehr szenische Aufgaben, als nur als Opfer am Ende zu fungieren, das er ja möglicherweise gar nicht ist. Es ist eins von Claus Guths Regiekunststücken, mit solchen, obendrein mit getanztem Witz gewürzten Ambivalenzen, jenen szenische Rausch zu liefern, den die Musik per se bietet. Dass sich Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester auch musikalisch sensibel und mit viel hörbar gemachten Details auf die szenische Lesart einlassen, gehört zu den Gründen, warum sich an der Oper Frankfurt so viele Inszenierungen sehen und hören lassen können. Diese neue „Elektra“ gehört ganz eindeutig dazu.

Oper Frankfurt
R. Strauss: Elektra

Sebastian Weigle (Leitung), Claus Guth (Regie), Katrin Lea Tag (Bühne), Theresa Wilson (Kostüme), Olaf Winter (Licht), Konrad Kuhn (Dramaturgie), Aile Asszonyi, Jennifer Holloway, Susan Bullock, Simon Bailey, Peter Marsh, Franz Mayer, Jonathan Abernethy, Seungwon Choi, Nombulelo Yende, Katharina Magiera, Helene Feldbauer, Bianca Andrew, Barbara Zechmeister, Monika Buczkowska, Camelia Suzana Peteu, Michaela Schaudel, Camelia Suzana Peteu, Michaela Schaudel, Edeltraud Pruß, Enikö Boros, Jianhua Zhu, Hiromi Mori, Gal Fefferman, Mirjam Motzke, Marion Plantey, Evie Poaros, Rouven Pabst, Jonathan Schmidt, Chor der Oper Frankfurt, Frankfurter Opern- und Museumsorchester

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