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Opern-Kritik: Opéra de Lyon – Tannhäuser

Avatare leben länger

(Lyon, 11.10.2022) Das angesagte Regietalent David Hermann wagt Wagner mit einiger Ambition und weiß doch nicht genau, was er denn nun erzählen will. Musikdirektor Daniele Rustioni debütiert mit deutlich mehr Fortune im deutschen Fach.

vonPeter Krause,

Viele Wege führen nach Rom. Das wissen die frommen Pilger, die von der Wartburg in Thüringen zu Fuß den ziemlich langen Büßer-Weg ins Zentrum der katholischen Christenheit antreten. Das weiß Heinrich Tannhäuser, der „Sünde fluchbelad‘ner Sohn“, dem allerdings nach dem Genuss der exklusiven Liebeswonnen – der „bösen Lust“ – bei Frau Venus die päpstliche Absolution verweigert wird. Und das weiß mit Sicherheit auch ein derzeit überaus angesagter Regisseur wie David Hermann, der sich nun an der Opéra de Lyon zur Saisoneröffnung an Richard Wagners romantische Oper wagte.

Für ihn galt nun die abgewandelte Rom-Weisheit: Viele Wege führen zum „Tannhäuser“, jenem Schmerzenskind des Gesamtkunstwerkers, das letztlich in keiner definitiven Fassung vorliegt, das so seine dramaturgischen Knackpunkte hat und ein Feld von Konflikten bietet, die nicht zwingend ihren Gegenwartsbezug entfalten. Denn sind die kontrastierenden Liebeskonzepte von fleischlicher Passion und keuscher Agape, personifiziert in den beiden Frauenfiguren der Venus und der Elisabeth, nicht ein ziemlich alter Hut? Interessanter scheint da schon der Weg, respektive das ewige Thema des Widerstreits von nach freier Entfaltung strebendem Künstlerindividuum und spießiger Mehrheitsgesellschaft.

Szenenbild aus „Tannhäuser“ an der Opéra de Lyon
Szenenbild aus „Tannhäuser“ an der Opéra de Lyon

Frau Venus herrscht im Reich der Virtual Reality

David Hermann wird die möglichen Wege zu seinem „Tannhäuser“ klug eruiert haben, wird manch gangbare Pfade verworfen und neue Wege bedacht haben. Durchaus zielführend wirkt die Ausgangssituation, in die er den frustrierten Tannhäuser im Venusberg stellt. Dessen initiales „Zu viel, zu viel“ bezieht sich bei ihm nicht auf die multiplen Möglichkeiten der sexuellen Befriedigung im Reich der Venus. Denn die Göttin der Liebe und ihre sechs Assistentinnen sind gar keine Damen aus Fleisch und Blut. Es sind digital generierte Maschinen der Lust, die echten Frauen nur täuschend ähnlichsehen, sich in ihrer Programmierung nur etwas staksiger bewegen als lebendige Wesen. Tannhäuser begegnet somit Avataren, die zum Vorspiel der Oper zunächst in Videos erscheinen, dann erst in Gestalt der grandiosen Venus-Sängerin Irène Roberts und einer Gruppe von Tänzerinnen auch in realer Bühnenwirklichkeit. Der Venusberg als Virtual Reality – das ist hübsch erdacht, übersetzt es doch die Vision des 19. Jahrhunderts jener „Paradis artificiels“, wie es Charles Baudelaire 1860 formulierte und wie es Richard Wagner, der phasenweise in Paris Exil, Geld und Inspiration suchte, durchaus antizipiert haben könnte.

Szenenbild aus „Tannhäuser“ an der Opéra de Lyon
Szenenbild aus „Tannhäuser“ an der Opéra de Lyon

Man spielt in Lyon passenderweise im ersten Aufzug die Pariser Fassung des „Tannhäuser“, wodurch die hier deutlich erweiterte chromatisch gespannte Venusmusik besonderes Gewicht erhält. Als Tannhäuser in diesem, nun ja, ziemlich sterilen Paradies aufwacht und des nicht analogen Angebots überdrüssig wirkt, stellt ihn Hermann als komponierenden Künstler vor, der auf echtem Notenpapier seine musikalischen Ideen festhält. Venus nimmt sogar Anteil daran, ergänzt offenbar einige Zeilen der Komposition. Diese scheinbare Empathie des Virtual Girls stimmt Tannhäuser freilich nicht um. Er will hier raus. Das verstehen wir bestens. Und wenn er nun davon singt, sich die Endlichkeit, ja sogar den Tod, zu wünschen, und der ewig andauernden holden Wunder abtrünnig werden zu wollen, dann wirkt das absolut stimmig. Ein Ausflug in die rein digitale (Liebes-)-Welt mag ja zu Anfang seine Reize haben, auf Dauer sehnt sich Mann nach dann doch nach der Wahrheit und der wahren Sinnlichkeit in Liebesdingen.

Mittelalterliche Minnesänger treten auf der Wartburg in der Wüste gegeneinander an

Ist Elisabeth also eine im reinen Wortsinn wahre Alternative für den rastlos suchenden Künstler? Am Ende des ersten Aufzugs auf dem Weg in die Opernpause ist die Spannung jedenfalls groß: Von welchem Konflikt wird Hermann uns nun erzählen? Denn Fragen wirft er zum ersten Finale so einige auf. Der Hirt, mithin der Verkünder des Frühlings und des natürlichen Lebens („Der Mai ist da.“) entstammt hier nicht der anderen Sphäre der normalen Menschen, sondern ist ein Abkömmling der virtuellen Venuswelt. Wie sollte der Regisseur nun also die Kurve in Richtung Wartburg kriegen? Er versucht es mit einer Rolle rückwärts. Man möchte sich die Augen reiben: Die Minnesänger erscheinen im zweiten Aufzug in mittelalterlichen Kostümen. So viel Librettotreue gab es wohl zuletzt bei Wolfgang Wagner und seiner Bayreuther Inszenierung.

Szenenbild aus „Tannhäuser“ an der Opéra de Lyon
Szenenbild aus „Tannhäuser“ an der Opéra de Lyon

Bühnenbildner Jo Schramm wählt allerdings ein Wüstencamp der Gegenwart, wie es in Afghanistan oder in Afrika stehen könnte, um den Einzug der Gäste für den Sängerwettstreit in Szene zu setzen. Diese Ungleichzeitigkeit hat zunächst den Charme der Verfremdung, doch die Interaktion zwischen den Minnesängern und dem Chor läuft meist in allzu traditionellen Bahnen. Nur im Liebesduett zwischen Elisabeth und Tannhäuser ironisiert David Hermann das Geständnis ihrer Gefühle dadurch, dass er Tannhäuser die gemeinsam gesungenen Zeilen zuvor komponieren lässt, und die beiden dann beim Absingen der frischen Noten („Gepriesen sei die Stunde“) über ihre eigenen Worte lachen. Die Verbindung zur Virtual Venus-Reality des ersten Aufzugs stellt der nunmehr stumme Hirt dar, dem zunächst Fesseln angelegt werden und der so seiner Macht beraubt wird, später stirbt er – auf den ersten Blick jedenfalls. Denn aus Computerspielen wissen wir: Avatare leben länger. Der Hirt fällt also auch im dritten Aufzug nochmal tot um, um hernach wieder munter aufzustehen.

Wagner mit Witzen und eine Regie, die nach verheißungsvollem Beginn nicht die Kurve kriegt

Was auf den ersten Blick nach Wagner mit Witzen aussieht, entpuppt sich freilich als wenig zielführende Taktik. Denn was uns der Regisseur denn nun wirklich erzählen wird, bleibt nebulös. Es sind aparte Bilder der Wartburg in der Wüste. Zumal die Spiegelung des kraterähnlichen Wüstenbodens in einem gigantisch gewölbten Spiegel kreiert eine angenehm beige Atmosphäre. Doch die statische Personen- und Chorregie erzeugt kaum Spannung. Es gilt also, auf den dritten Aufzug zu warten. Da tritt dann noch ein weiß geschminkter, recht furchteinflößender Sensenmann mit nicht ergrünendem Bischofsstab als boshafte Inkarnation des Papstes auf, um Tannhäusers Romerzählung („so bist auf ewig du verdammt“) plastischen Nachdruck zu verleihen. Und am Ende scheinen sich die drei (sic!) Frauenfiguren miteinander zu solidarisieren: Jedenfalls fahren nun Venus, Elisabeth und Hirt dreieinig in die Unterwelt und lassen die erlösungsbedürftigen Herren der Schöpfung im Kreise des Chores unmerklich verschwinden. Gut gemeinte feministische Impulse auf den Wegen zu Wagner in allen Ehren, aber die Geschichte (welche Geschichte denn nun?) wird dadurch auch nicht rund.

Szenenbild aus „Tannhäuser“ an der Opéra de Lyon
Szenenbild aus „Tannhäuser“ an der Opéra de Lyon

Wagner mit italienischen Untertönen – und eine Besetzung mit Neigung zur Weltklasse

Man hält sich also dann doch besser an die Musik. Und um die ist es an der Opéra de Lyon aufs Beste bestellt. Daniele Rustioni dirigiert seinen ersten „Tannhäuser“ mit viel Gefühl für dessen heimliche Italianità. Der Musikdirektor zelebriert seinen Wagner nicht, er phrasiert ihn klangschön (herrlich singend sind die Mittelstimmen der Celli!) und rückt ihn mit flotten Tempi an das Brio von Rossini und die effektvolle Vitalität der französischen Grand Opéra heran. Dabei kann er sich nicht nur auf das Orchestre de l’Opéra de Lyon verlassen, dessen luzide Holzbläser und legatofeine Streicher mehr begeistern als das Blech, sondern im besonderen auch auf den Chor seines Hauses, der mit Saft, Kraft und Pracht bei der Wagnersache ist.

Stephen Gould, der aktuelle Bayreuther Tannhäuser, singt die Titelpartie nun in Frankreich noch geschmeidiger als im Mekka der Wagnerpflege. Christoph Pohl gibt den Wolfram mit liedhafter Baritonklarheit ohne jede Sentimentalität. Robert Lewis empfiehlt sich als feinstimmiger Walther-Tenor für größere Aufgaben. Liang Li ist ein Luxus-Landgraf, der mit ungeahnt differenzierter Bassmacht bei der Sache ist. Johanni van Oostrum könnte ihren schönen jugendlich-dramatischen Sopran als Elisabeth noch edler leuchten lassen, gönnte ihr Rustioni zumal in der Hallenarie etwas mehr agogischen Atemraum. Irène Roberts ist mit ihrem in allen Registern perfekt ausgeglichen dramatischen Mezzo und der hervorragenden Textbehandlung eine Venus von Weltklasse. Giulia Scopelliti lässt als Hirt mit ihrem glockenreinen Sopran mehr als Aufhorchen. Da wächst mit der jungen Sängerin aus dem Opernstudio ein Juwel heran.

Opéra de Lyon
Wagner: Tannhäuser

Daniele Rustioni (Leitung), David Hermann (Regie), Jo Schramm (Bühne), Bettina Walter (Kostüme), Fabrice Kebour (Licht), Jean-Philippe Guilois (Choreographie), Liang Li, Stephen Gould, Johanni van Oostrum, Irène Roberts, Christoph Pohl, Robert Lewis, Kristofer Lundin, Dumitru Madasaran, Giulia Scopelliti, Chor und Orchester der Opéra de Lyon

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