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Opern-Kritik: Schloss Schwetzingen – Der Doppelgänger

Musikdramatische Selbstreflexionen

(Schwetzingen, 26.4.2024) Bei den Schwetzinger SWR Festspielen wird dieses Jahr das Schloss-Theater zum Atelier psychologischer Studien. Lucia Ronchetti bringt dort „Der Doppelgänger“ auf Grundlage von Fjodor Dostojewskis gleichnamigen Roman zur Uraufführung, mit überraschendem Orchesterwerkzeug. Indes glänzt in dieser 75-minütigen Kammeroper Peter Schöne als Hauptfigur Goljadkin.

vonPatrick Erb,

Jakow Petrowitsch Goljadkin hat viel Zeit, über sich nachzudenken. Die oft bedrückende Stimmung der Musik und die wirren Wortfetzen zeigen schnell, das mit dem Geisteszustand Goljadkins etwas nicht stimmt. Zunächst redet er mit sich selbst, phantasiert die Liebe zur Tochter seines Vorgesetzten herbei, auch sein Arzt ist von der Gesundheit nicht überzeugt. Peter Schöne begleitet dabei am Premierenabend im Schwetzinger Pigage-Theater den schleichenden Prozess des Scheiterns im Wahn überzeugend. Fast 20 Minuten dieser knappen Kammeroper vergehen, bis der Doppelgänger, verkörpert durch Christian Tschelebiew, erstmals erscheint und zumindest für die Zuschauenden Gewissheit besteht, dass es um den Petersburger Beamten schlecht bestellt ist.

Szenenbild zu "Der Doppelgänger"
Szenenbild zu „Der Doppelgänger“

Der Doppelgänger, ein literarisches Experiment

In diesem Jahr entschied man sich bei den Schwetzinger SWR Festspielen, eine Literaturoper uraufzuführen. Grundlage der Produktion ist Fjodor Dostojewskis Erzählung „Der Doppelgänger“, welche die Librettistin Katja Petrowskaja mit prägnanter Kürze und staccatoartigen Dialogen aufbereitet hat. Dostojewski legt in seiner frühen Erzählung viel Wert auf den geistigen Prozess des Scheiterns. Wie auch in der literarischen Vorlage bleibt bis zum Ende der Erzählung unklar, ob der Doppelgänger tatsächlich ein Usurpator im Leben Goljadkins ist oder dieser unter Schizophrenie leidet. Beide Deutungen führen Jakow Petrowitsch jedoch ins Verderben – er wird vom Arzt in ein Irrenhaus verwiesen.

Szenenbild zu "Der Doppelgänger"
Szenenbild zu „Der Doppelgänger“

Mehr Sprechtheater als Oper

Der Wahn, der nicht selten beim Naturalisten Dostojewski im Vordergrund steht, ist auch Grundlage des ästhetischen Konzepts von Ronchetti. Die Italienerin verleiht den Gesangspartien ein dominantes Parlando, das spielerisch den gesamten Rahmen des Singbaren auslotet – wenn überhaupt von Gesang die Rede sein kann. Denn im Stück werden viele Dialoge trocken wiedergegeben, manche in rezitativischem Parlando, wenige Elemente sind arios. Es entsteht dadurch zwar eine forcierte Steigungskurve, in der mehr gesungen wird, je mehr die handelnden Charaktere emotional ergriffen sind, doch fehlt es im Gesang an Farbe.

Szenenbild zu "Der Doppelgänger"
Szenenbild zu „Der Doppelgänger“

Der Lear im Stück

Das macht sich vor allem an der Verteilung der ariosen Elemente bemerkbar. Während Peter Schöne als Goljadkin zunehmend im Singen sehr überzeugend den Verstand verliert, bleibt der Doppelgänger beängstigend nüchtern. Doch auch Robert Maszl als Dr. Rutenspitz und Vladyslav Tlushch als Abteilungsleiter Andrej Filippowitsch sind mehr Schauspieler als Sänger und weisen Goljadkins Erregung mit klanglosem Unverständnis ab. Schließlich kann Oliva Stahn als Klara Olsufjewna ihre Sehnsucht mit gebirgsbachartigen Vokalisen ausformulieren. Als Tochter von Filippowitsch blickt sie der Verheiratung entgegen und will mit Goljadkin fliehen. Insgesamt sind die Gesangspartien jedoch zu wenig, zumal die Stilistik sehr stark an Aribert Reimanns „Lear“ heranreicht. Hier wünscht man sich mehr Ideenreichtum.

Szenenbild zu "Der Doppelgänger"
Szenenbild zu „Der Doppelgänger“

Orchestrales und szenisches Mosaik

Besser gelingt Lucia Ronchetti die instrumentale Gestaltung. Die Komponistin bedient sich einer Palette an Klangsteinchen. Für jede Szene nutzt sie charakteristische Klangbilder, von denen viele impressionistisch wirken. Etwa wenn Goljadkin seine Equipage vorbereiten lässt, erklingen Glöckchen, die stark in ein romantisches Sankt Petersburg hineinwirken. Darüber hinaus bedient sich Ronchetti einer Vielzahl musikalischer Zitate, die geschickt in die Partitur hineingesetzt werden. Das bevorzugte Instrumentarium ist dabei perkussiv. Im kleinen Graben des Pigage-Theaters sitzen vor allem Perkussionisten des SWR Symphonieorchesters unter der Leitung von Tito Ceccherini, die eine unbeschreibliche Vielzahl an Geräten einsetzen, um ein ausdifferenziertes Klangmosaik zu entwerfen.

Szenenbild zu "Der Doppelgänger"
Szenenbild zu „Der Doppelgänger“

Dieses musikalische Mosaik geht nahtlos in das dynamische szenische Konzept der Oper über, für dessen Bühne Bettina Meyer verantwortlich zeichnet. Die Bühne ist ein in Kacheln unterteilter Rahmen mit verschiebbaren Innenwänden. Für jede Szene wird der Bühnenraum anders arrangiert und die fehlende Gesangsvielfalt kompensiert. Wenn die Wände der Bühne Goljadkin fast erdrücken, wird dessen seelische Not sichtlich erfahrbar gemacht. Auch können sich die Handelnden von verschiedenen Ebenen missgünstig beobachten. Das Mittel der sich neu erfindenden Bühneneinteilung ist erfrischend – mehr szenische Kontextualisierung braucht diese psychologische Studie nicht.

Schwetzinger SWR Festspiele
Ronchetti: Der Doppelgänger

Tito Ceccherini (Leitung), David Hermann (Regie), Bettina Meyer (Bühne), You-Jin Seo (Kostüme), Clemens Gorzella (Licht), Jens Schubbe & Talisa Walser (Dramaturgie), Peter Schöne, Olivia Stahn, Robert Maszl, Zvi Emanuel-Marial, Christian Tschelebiew, Vladyslav Tlushch, SWR Symphonie Orchester

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