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Opern-Kritik: Staatstheater Braunschweig – Koma

Miasma der bedrückenden und erheiternden Klänge

(Braunschweig, 9.3.2024) Am Staatstheater Braunschweig wird die Bühne auch zum immersiven Auditorium: Intendantin Dagmar Schlingmann inszeniert Georg Friedrich Haas‘ „Koma“ und überlässt die Zuschauenden zeitweise in völliger Dunkelheit. Die Musik erhält erst dadurch ihre völlige Legitimität.

vonPatrick Erb,

Undurchdringliche Dunkelheit beherrscht die Bühne des Staatstheater Braunschweig. Nicht nur die Darsteller, auch die nicht mal zweihundert sich auf der Bühne befindlichen Zuschauenden werden von der absoluten Schwärze erfasst. Es ist die Stunde des Klangs. Eingerahmt von zwei Orchesterchören, einer mit Streichern, der andere mit Bläsern, dazu jeweils ein wenig Perkussion, ist der Blick in ein undurchdringliches Nichts gerichtet – nur die stark atmosphärischen Klangwellen umfassen das Auditorium beinahe in einem unheilvollen Miasma.

Licht beginnt Klarheit in die nebulösen Klang- und Bühnenverhältnisse zu bringen. Alexis Agrafiotis, die musikalische Leitung des Abends, und sein Orchester sind nun wieder sichtbar. Zuversicht und Orientierung machen sich auch in der nicht wenig bedrückenden Musik des Österreichers Haas bemerkbar. Dissonante Cluster bekomme erwärmende Züge, bevor es von neuem beginnt: ewige Finsternis.

Szenenbild aus „Koma“
Szenenbild aus „Koma“

Im Sog der Stimmen

Obschon die Musik durch Intendantin Dagmar Schlingmanns Inszenierungsansatz, der zwischen Ein- und Abblenden des kompletten Bühnenraums changiert, eine unbeschreibliche Aufwertung erhält und fast zu einem reinen Hörstück wird, bleibt es Musiktheater. Es ist vielmehr ein Theaterstück, in welchem die Musik ein Kommentar des Gemütszustands der Darstellenden ist.

Szenenbild aus „Koma“
Szenenbild aus „Koma“

Das Zentrum der Handlung ist die im Koma liegende Michaela. Um sie herum stehen ihr Mann Michael, die Schwester Jasmin und deren Mann Alexander; dazu Pflegepersonal und Ärzte. In Braunschweig ist die Bühne jedoch die Gedankenwelt der Komapatientin Michaela, welcher Ekaterina Kudryavtseva eine unter die Haut gehende und schneidende Stimme verleiht. Worte spricht sie keine, denn unmöglich erreichen ihre Kommunikationsversuche das Umfeld – es sind Klanggebaren.

Szenenbild aus „Koma“
Szenenbild aus „Koma“

Die Angehörigen wiederum sind in einen Prozess des Verzweifelns eingetreten. Sie scheitern daran, nicht helfen zu können. Und das mit einer gehörigen Mischung aus wahnerfüllten Ariosi und Dialogen, denn in Braunschweig wird die Schwetzinger Urfassung gespielt, die zum Musiktheater auch das Sprechtheater inkludiert, Verzweiflung und Irrsinn besser paraphrasiert werden können. Besonders geht dabei Daniel Gloger in seiner Doppelrolle als Alexander und Mutter Michaelas auf. Gloger – als versierter Kenner des modernen Repertoires – kann sich in exzellenten Stilblüten an sich selbst abarbeiten; die komplexe Intonation seiner Rolle vernachlässigt er dabei nicht. Besonderes Lob gilt am Premierenabend dem Duo Pia Davila und Beatrice Müller, die jeweils Gesang und Schauspiel beisteuern, um die Erkrankte Veronika Schäfer zu ersetzen. Davila, die die Rolle zuvor noch nicht gesungen hat, musste diese innerhalb einer Woche auswendig lernen, da in den Dunkelphasen des Stücks der Blick auf die Partitur nicht möglich ist.

Szenenbild aus „Koma“
Szenenbild aus „Koma“

Immer in Bewegung

Was den Darstellern eine zusätzliche Vitaminspritze an Expressivität verleiht, ist das Bühnenbild: ein quaderförmiges Holzgestell, dessen mit durchlässigen Stoffen bezogene Wände, verschieden stark in Licht getaucht, das abstrakte Stimmungsbild nachzeichnen – mal im Sinne der Patientin, mal im Sinne der Angehörigen. Und diese – gekleidet in fliederfarbene Anzüge und weiße Perücken, um als schemenhafte Wesen möglichst wenig Individualität auszudrücken – sind ständig in Bewegung, drehen sich mit der Bühnenplattform mit oder werden bis an die erste Reihe gefahren, wo deren Entrückung hautnah erfahrbar wird. Grotesk wabern dabei die Gedanken- und Sinnbilder im Kopf Michaelas, also durch die Hinterbühne herum. Es sind die Erinnerungen der Vergangenheit, darunter pinkes Einhorn, Dinosaurier, Kleider, die so deplatziert wirken wie die teilnahmslose Tochter Barbara (Maria Schneidewind). Gegenständliches, menschliche Nähe und Worte sollen Michaela ins Leben zurückführen. Vergebens.

Szenenbild aus „Koma“
Szenenbild aus „Koma“

Schlingmann und ihr Team kontextualisieren die Musik in einer Inszenierung der klaren Formen und der Bedeutungsperspektive. Nur durch die Sinnbrücke des Spiels mit Licht und Dunkelheit kann die Musik überhaupt wirken. Das Experiment mit dem Abblenden, das von den Beteiligten ein hohes Engagement einfordert, ist, wenn auch durch zu viele Licht-Dunkel-Wechsel etwas Unruhe erzeugend, überzeugend gelungen – die immersive Erfahrung sehens- und vor allem hörenswert.

Staatstheater Braunschweig
Haas: Koma

Alexis Agrafiotis (Leitung), Dagmar Schlingmann (Regie), Sabine Mader (Bühne & Kostüme), Sarah Grahneis (Dramaturgie), Jörg Schmidt (Licht), Ekaterina Kudryavtseva, Rainer Mesecke, Pia Davila, Beatrice Müller, Daniel Gloger, Nora Schulte, Claudia Renner, Yannik Heckmann, Niklas Marian Müller, Lea Mergell, Maria Schneidewind, Staatsorchester Braunschweig

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