Opern-Kritik: Staatstheater Kassel – Götterdämmerung

Menschheits-Krimi

(Kassel, 7.3.2020) Während GMD Francesco Angelico einen gänzlich neuen, stupenden Zugang zum geradezu überinterpretierten Wagner-Werk findet, pendelt Markus Dietz in seiner Regie Poesie, Psychologie und Politik präzise aus.

© N. Klinger

Daniel Frank (Siegfried) und Kelly Cae Hogan (Brünnhilde)

Daniel Frank (Siegfried) und Kelly Cae Hogan (Brünnhilde)

Ganz normale Menschen bevölkern die Bühne des Staatstheater Kassel: Junge und Alte, mit biegsamen Körpern gesegnete Kinder wie Senioren mit gekrümmten Rücken. Sie alle tragen beige uniforme Unterwäsche. Und sie werden zu teilnehmenden Beobachtern des Geschehens der „Götterdämmerung“. Bereits zu Beginn in der Nornenszene tauchen sie auf, ihre abgelegten bunten ollen Klamotten zeigen uns dann in der Rheintöchterszene des dritten Aufzugs, dass Deutschlands mächtigster Fluss ein ziemlich verdrecktes Gewässer ist. Zum Weltenbrand des Finales sind sie schließlich eine beredt schweigende Masse, die Anteil nimmt am Schicksal von Brünnhilde und Siegfried: Die beiden sind gerade auf dem Weg in den Sühnetod, der sie selbst und womöglich gar die Welt erlöst.

Partizipatives Projekt nebst Chèreau-Verbeugung

© N. Klinger

Jaclyn Bermudez (liegend: Gutrune) und Dalia Valandia (Gestalt Waldvogel)

Jaclyn Bermudez (liegend: Gutrune) und Dalia Valandia (Gestalt Waldvogel)

Markus Dietz hat Bürgerinnen und Bürger der Stadt Kassel und Umgebung eingeladen, seinen „Ring“ am Staatstheater Kassel mitzugestalten. Das partizipative Projekt hat hier freilich so gar nichts gutmenschelnd Wohl- Gemeintes, es ist auch kein simples Additivum zu einer enorm stimmigen, in der Personenregie präzisen wie bildstarken Inszenierung. Vielmehr ist es Ausgangspunkt einer szenischen Interpretation, die Wagner und seine Helden vom Sockel der göttlich entrückten Distanziertheit stößt und uns auf ganz selbstverständliche Weise nahe bringt – sie auf diesem Wege auch unmittelbar verständlich macht. Patrice Chéreau hat in seinem Bayreuther Jahrhundert-„Ring“ einst die Götter zu Menschen gemacht und in der legendären Schlussszene einen ebensolchen Bewegungschor auf die Bühne gebracht. Dietze wagt nun die Referenz an die epochale Deutung, ohne damit den vermessenen Anspruch zu erheben, ähnlich Gültiges, Singuläres zu schaffen. Der Oberspielleiter der hiesigen Schauspiel-Sparte gibt sich zudem durchaus demütig, gar nicht dekonstruktionswütig. Aber er schafft eine theaterprall saftige, auch mal blutverschmierte Vergegenwärtigung der „Ring“-Parabel, die packend gerät.

Langhaar- und Kurzhosenträger Siegfried ist ein Anarcho-Prolet im Drachen-T-Shirt

© N. Klinger

Marta Herman (1. Norn) und Vero Miller (2. Norn)

Marta Herman (1. Norn) und Vero Miller (2. Norn)

Nur im ersten Aufzug schießt er in der Wahl seiner Mittel mitunter über das Ziel hinaus. Der Humor des „Siegfried“-Satyrspiels ist hier noch deutlich zu spüren und wirkt willkommen. Da hat der immer noch arg kurzhosig anarchistische, ungehobelte wie unerzogene Siegfried den Ring gerade mal verlegt – und findet ihn just im Kühlschrank wieder, aus dem er sich auf dem Weg „zu neuen Taten“ dann seinen Reiseproviant schnappt: Vegetarisches, das seine holde Brünnhilde offenbar bevorzugt, schmeißt er dabei achtlos auf den Boden. Der Rucksack wird mit Haltbarem gefüllt. Wir kapieren: Der Kerl lebt im Moment, zumal im Augenblick des Eros, nach dessen Genuss er nun nach neuen Abenteuern Ausschau hält. Auf geht’s, seine Hormone leiten ihn. So sind sie halt – die Männer. Brünnhildes Liebe hingegen hat Dauer, Ernsthaftigkeit und Verbindlichkeit. Auf dem gemeinsamen Bett liegend sinniert sie dem sprunghaften Langhaarträger innig nach. Angekommen in der säulenbestandenen Halle der Gibichungen fällt der junge Mann sogleich übers Buffet her, auf das er rotzfrech die Füße legt, und beisst gänzlich unbeleckt von göttergleichen Tischsitten in die Sahnetorte, deren Reste sich sogleich an Hose und Drachen-T-Short wiederfinden. Die Zeichnung eines nach Maximierung seiner individuellen Freiheit strebenden, durchaus proletarischen Anti-Helden ist klar, sie wäre es mit einem Weniger an deftiger Deutlichkeit aber auch.

Dringliche Dichte des Erzählens

© N. Klinger

Albert Pesendorfer (liegend: Hagen), Nelio Neumann (Statisterie), Kelly Cae Hogan (Brünnhilde)

Albert Pesendorfer (liegend: Hagen), Nelio Neumann (Statisterie), Kelly Cae Hogan (Brünnhilde)

Bereits in der Waltrautenszene des ersten Aufzugs, die dank der famosen, pianissimofein wie dramatisch intensiv gestaltenden Mezzosopranistin Ulrike Schneider zu einem sängerdarstellerischen Höhepunkt mutiert, und endgültig dann ab dem zweiten Aufzug aber lässt Markus Dietz eine dringliche Dichte des Erzählens entstehen, die eine unerhörte, kriminahe Spannung hat. Im graukalten Stelenambiente der Gibichungen üben Gutrune (etwas soubrettenspitz: Jaclyn Bermudez) und Gunther (mit tollem heldischem Kavaliersbariton: Hansung Yoo) mangels Partneralternativen die inzestuöse Liebe. Hagen fädelt seine Intrige wie ein ehrgeizig kaltblütiger, aufstrebender Macher des mittleren Managements ein, Albert Pesendorfer singt ihn mit klug temperierter Basswucht – eine Luxusbesetzung. Seine bis nach Bayreuth reichende Rollenerfahrung hebt die Premiere auf internationales Spitzenniveau.

Politik und Poesie, Tiefgang und Leichtigkeit

Das politische Ränkespiel hält der Regisseur indes frei von tagesaktuell kurzgeschlossenen Parallelen, erlaubt sich dafür auch poetische Momente. In Hagens letzter Wiederbegegnung mit seinem Vater Alberich erfindet Dietz ein kindliches Hagen-Double hinzu, dem der alte Alben-Strippenzieher bereits seine Pläne zur Rückgewinnung des Rings einimpft. Das sich emanzipierende, alsbald das Vernichtungswerk vollendende Hagen-Kind bedankt sich dafür mit dem nicht librettokonformen Vatermord: eine sehr wohl treffliche Pointe, die an die Nieren geht. Sogar für Brünnhildes Ross Grane findet Dietz eine Übersetzung: Sowohl Siegfried begibt sich mit einem wie ein Hündchen an der Leine geführten jungen Mann auf die Reise als auch Brünnhilde in ihrem Schlussgesang. Ein Wagner gut tuendes, weil ihn erdendes Augenzwinkern und die assoziative Zeichenhaftigkeit solcher Entsprechungen geben dem Abend zugleich Leichtigkeit und Tiefgang.

Es ist an uns, die Welt zu retten – die Götter haben ausgedient

© N. Klinger

von links: Dalia Valandia (Gestalt Waldvogel), Albert Pesendorfer (oben stehend: Hagen), Daniel Frank (Siegfried) und Hansung Yoo (Gunther)

von links: Dalia Valandia (Gestalt Waldvogel), Albert Pesendorfer (oben stehend: Hagen), Daniel Frank (Siegfried) und Hansung Yoo (Gunther)

Die besondere psychologische Genauigkeit, auf die sich Schauspiel-Mann Markus Dietz versteht, wird in dieser „Götterdämmerung“ dadurch gestärkt und ans Publikum buchstäblich herangerückt, dass ihm seine Bühnenbildnerin Mayke Hegger eine Rampe vor den Orchestergraben gebaut hat. Auf ihr finden viele zentrale Szenen statt – und Hagens Mannen-Rufe entfalten von hier gesungen eine derart brutal verführerische Wucht, dass man diesem Manipulator die Anstiftung eines neuen Weltkriegs zutrauen würde. Immer feiner pendelt Dietz nun aber Politik und Poesie aus. Letztere kommt zuletzt in einen berührenden Pietà-Bild zum Ausdruck, wenn Brünnhilde den geschlachteten Siegfried als wissendes Weib in ihrem Schoß hält. Und für die letzten, vom Erlösungsmotiv umflorten Takte der Tetralogie hat sich der Regisseur eine Geste ins Publikum hinein erdacht, die hier nicht verraten werden darf, den anwesenden Mitfühlenden aber zu verstehen gibt: Es ist an uns, die Welt zu retten. Denn die Götter haben ausgedient.

GMD mit Genialitätsverdacht: Francesco Angelico entfaltet sensible Sogkraft

Den unverstellt frischen, neugierigen Blick auf die Handlung wagt auch Francesco Angelico auf die Partitur – am Pult eines Staatsorchester Kassel, das auf Metropolenformat spielt. Der sizilianische GMD muss und will sich hier nicht zwischen Boulez-Transparenz und Thielemann-Schwelgen entscheiden. Er findet einen sehr persönlichen Zugriff, dem seine italienische Kunst der Phrasierung langer Bögen entscheidend zu Gute kommt, um vom ersten bis zum letzten Takt eine sensible Sogkraft zu entfalten, die Wagners Musik blühen und strömen lässt. Angelico versteht sich stupend auf das weit gespannte Ausmusizieren, sein agogisches Atmen wirkt dabei vollkommen natürlich. Herrliche (Holzbläser-)Details sind dabei in den (im übrigen intonatorisch stupenden) Streicherfluss fein eingebunden, Nebenstimmen werden hörbar, die Leitmotive wirken sprechend. Das Klangbild ist flexibel und lebendig austariert, die Übergänge fließen: Die Wahl, das Werk ohne Taktstock zu dirigieren, ist gewagt – führt jedoch zu einer inneren Freiheit des gemeinsamen Musizierens, die exemplarisch wirkt und einen wirklich neuen Zugang zum geradezu überinterpretierten Wagner-Werk bietet. Kelly Cae Hogan ist mit ihrer dramatischen Sopranleuchtkraft ebenso eine Brünnhilden-Erfüllung wie der helle Heldentenor des Daniel Frank als Siegfried ein Ereignis. Von vokaler Ermüdungsgefahr nicht eine Spur.
Am Staatstheater Kassel hat sich ein „Ring“ gerundet, den Wagnerianer erleben müssen und der zugleich Wagner-Zweiflern einen Zugang ebnet. Zwei komplette Zyklen stehen im Frühjahr 2021 an. Karten sichern!

Staatstheater Kassel
Wagner: Götterdämmerung

Francesco Angelico (Leitung), Markus Dietz (Regie), Mayke Hegger (Bühne), Henrike Bromber (Kostüm), David Worm (Video), Daniel Frank, Hansung Yoo, Albert Pesendorfer, Thomas Gazheli, Kelly Cae Hogan, Jaclyn Bermudez, Ulrike Schneider, Marta Herman, Vero Miller, Elizabeth Bailey, Doris Neidig, Dalia Velandia, Staatsorchester Kassel, Opernchor und Herren des Extrachores des Staatstheaters Kassel, Bürger der Stadt Kassel und Umgebung

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