Opern-Kritik: Stadttheater Gießen – Brokeback Mountain

Hart, unsentimental und tieftraurig

(Gießen, 19.2.2021) Musiktheater als emotionaler Extremwinter ohne Frostschutzmittel: Charles Wourinen, der amerikanische Komponist finnischer Abstammung, vertonte die Story einer utopiefreien schwulen Liebe nach dem gleichnamigen Film schonungs- und kompromisslos. Cathérine Miville inszeniert die Annäherung der beiden Männer mit subtiler Körperlichkeit.

© Rolf K. Wegst

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Samuel Levine und Sebastian Noack

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Samuel Levine und Sebastian Noack

Die Liebe des Rodeoreiters Jack und des Ranchers Ennis ist inzwischen eine Kinolegende. Im Vergleich zu den Rekordeinnahmen, Auszeichnungen und Kontroversen von Ang Lees Film „Brokeback Mountain“ (2005) hat die Erfolgsgeschichte der Oper bisher aber nur wenige Stationen. Das zweite Bühnenwerk von Charles Wourinen (1938-2020) war 2014 die letzte für das Teatro Real Madrid von Gérard Mortier vergebene Auftragskomposition. Nach dem Theater Aachen und der von der New York City Opera übernommenen Produktion des Salzburger Landestheaters 2017 folgte eine Inszenierung am Stadttheater Gießen. Der Premieren-Beifall für alle Beteiligten, vor allem für Sebastian Noack (Ennis) und Samuel Levine (Jack) war lang und intensiv.

Stumme Gefühle

© Rolf K. Wegst

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Samuel Levine und Sebastian Noack

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Samuel Levine und Sebastian Noack

Der amerikanische Komponist finnischer Abstammung vertonte die Story schonungs- und kompromisslos. Dabei brach er mit einer bis in die Gegenwart gültigen Kardinalregel des Musiktheaters. In diesem ist die Musik für Liebende in Reibungen zum gesellschaftlichen Konsens immer Trost, Erfüllung, Rausch, Ekstase und metaphysischer Kitt. Das gilt für „Tristan und Isolde“ und sogar für die apollinisch-dionysischen Visionen des Schriftstellers Gustav von Aschenbach in Brittens „Tod in Venedig“, nicht aber für Ennis und Jack bei Wuorinen. Annie Proulx, die Verfasserin der dem Film und der Oper zugrunde liegenden Erzählung, gestaltete ihr Libretto härter und unsentimentaler als den Film. Es geht nicht nur um die Utopie einer Liebe, sondern in erster Linie um die scheiternde Bewältigung eines zerstörerischen Ausnahmezustands. Ein Publikumshit ist Charles Wuorinens intelligente wie bei genauem Hören bezwingende Musik wahrscheinlich nicht. Denn diese gibt der Liebe keine tönende Nahrung.

Die Musik des Berges

© Rolf K. Wegst

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Antje Tiné und Hailey Clark

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Antje Tiné und Hailey Clark

Gedämpfte Harfe, kleine Trommel und Solostreicher liefern Tonskizzen aus dem Geäder des Gebirgsgesteins, von rauen Sommern und plötzlichen Kälteeinbrüchen. Am Ende, wenn Jack tot ist und der sich immer gegen ein Zusammenleben wehrende Ennis allein zurückbleibt, stirbt auch die unnachgiebige Musik des Bergs. Es bleibt das kalte Schweigen. Mit einem besteigbaren Wandbau von Lukas Noll von und Marc Jungreithmeiers intensiven Videobildern umschließt der Brokeback Mountain alle Figuren. Nur einmal leuchtet er im frühlingshaften Farbvollrausch. Nach Jacks frühem Unfalltod rückt er immer ferner. Aufnahmen echter Schafe, sparsame Andeutungen eines Zeltplatzes und Alltagsräume mit idealer Eignung für eheliche Störfälle wechseln. Kaltes Weiß steht am Ende für Ennis‘ Daseinsvakuum – und seine Verlorenheit mit den quälenden Erinnerungen. Wuorinen komponierte eine anti-sinfonische Dichtung in zwei langen Teilen. In Gießen entsteht auf der Bühne dazu eine visuelle Dichtung für die von Konflikten überrollten Kleindarsteller lebenswahrer Ereignisse. Die Kinder der beiden ihre Leidenschaft als Angelausflüge tarnenden Männer sind nur im Video präsent. In schräge bis exaltierte Fahrt kommt die Musik, wenn Ennis‘ Frau Alma einen Kinoabend als Erholung von Kindern und Küche fordert und dazu Ennis‘ Erwerbssituation – durchaus berechtigt – als unzureichend kritisiert. Aber die Musik verweigert auch eine positive oder heroische Illustration von Jacks‘ Ambitionen als Rodeoreiter und Ennis‘ Jobs auf der Ranch. Sie ist zutiefst pessimistisch. Denn sie gibt weder Gefühlen Raum noch den Figuren eine Chance oder Hoffnung. Sogar zur sexuellen Hochspannung gähnt der Brokeback Mountain.

Wenn menschliche Stimmen sich gegen den Wohlklang sperren

© Rolf K. Wegst

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Samuel Levine und Sebastian Noack

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen:

In Gießen sperren sich auch die menschlichen Stimmen gegen den Wohlklang. Die Annäherung von Jack und Ennis vollzieht sich überwiegend in harschen Rezitativen, zu denen Hailey Clark als verzweifelte Alina einige souverän geschärfte Koloratur-Outputs beisteuert. Für diese Partie hatte sie bereits 2017 am Salzburger Landestheater den Österreichischen Musiktheaterpreis als Beste weibliche Hauptrolle erhalten. Melodische Glückshormon-Ausschüttungen aber – Fehlanzeige! Sympathie entsteht trotzdem hinter dieser Sprödigkeit. Die Schultern des Baritons Sebastian Noack hängen immer tiefer, weil Ennis sich wegen der Homophobie seines Vaters nicht zu seiner schwulen Liebe bekennen kann. Zur Hälfte besteht Ennis‘ Part aus abweisenden Verneinungen und kurzen Sätzen, zwischen denen sogar die zerfallenden Orchesterphrasen des Endes zu fast tröstender Fülle werden. Zur Tenor-Paradepartie wird es Jack nicht schaffen, weil Wuorinen in jede sportive Energiebekundung mindestens ein harmonisches Fragezeichen setzt. Samuel Levine singt das farbiger als Noack, der in Entsprechung dazu jeden Ton mit mehr Kraft und Ausdruck unterlegt.

Emotionale Vereisung

© Rolf K. Wegst

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Tomi Wendt und Ilseyar Khayrullova

„Brokeback Mountain“ am Stadttheater Gießen: Tomi Wendt und Ilseyar Khayrullova

Cathérine Miville, unter deren Intendanz das Stadttheater Gießen immer wieder mit neuen Werken auf sich aufmerksam machte, setzt die Annäherung der beiden Männer mit subtiler, unaufdringlicher Körperlichkeit in Szene. Problematisch bleibt vor allem der als Beobachter von Ennis‘ Gefühlsüberwältigungen erst sehr spät zum Singen kommende Chor. Wenig vokales und gestaltetes Gewicht haben mehrere Nebenpartien: Ilseyar Khayrullova als Jacks sympathische Frau Lureen, Tomi Wendt als Lureens Vater, Melinda Paulsen und Dan Chamandy als Jacks alte Eltern und Pawel Lawreszuk als Schafmogul Aguirre. Es gibt nur wenige Opern mit so vielen undankbaren Partien wie „Brokeback Mountain“. In Gießen bedeuten die Enge des Lebens und dessen Weite fast dasselbe. Monika Goras Aufgabenfeld für die Kostüme war überschaubar: Cowboyhüte, Karohemden und Jeans in attraktiven Körperpassformen. Sogar die Liebe bedeutet in Wuorinens Oper keine Erholung von den Sisyphus-Arbeiten im Leben. „Nichts war zu Ende, nichts fing an, nichts war geklärt.“ Dieser Satz aus Proulx‘ Erzählung könnte auch die Beschreibung der Oper sein. Für Dirigenten bedeutet dieses sinnvolle Konstrukt von musikalischen Mangelerscheinungen eine anspruchsvolle Herausforderung. Zwischen solistischen Wirkungen aus dem Orchester artikuliert sich Wuorinen mit einer sprechenden Leere, die so wichtig ist wie das Gesungene und Erklingende. Fabrizio Ventura hält die Spannung trotzdem. Die realistische Spielform und die sehr deutliche Sichtbarmachung von Wuorinens musikalischer Konstruktion glätten diesen Konflikt nicht. Das machte den Premierenabend enervierend, kraftvoll und auf ungewöhnliche Art faszinierend: Musiktheater als emotionaler Extremwinter ohne Frostschutzmittel.

Stadttheater Gießen
Wuorinen: Brokeback Mountain

Fabrizio Ventura / Martin Spahr (Leitung), Cathérine Miville (Regie), Lukas Noll (Bühne), Monika Gora (Kostüme), Marc Jungreithmeier (Video), Jan Hoffmann (Chor), Samuel Christian Zinsli (Dramaturgie), Sebastian Noack (Ennis), Samuel Levine (Jack), Antonia Bourvé / Hailey Clark (Alma, Ennis‘ Frau), Ilseyar Khayrullova (Lureen, Jacks Frau), Tomi Wendt (Lureens Vater), Melinda Paulsen (Jacks Mutter / Barkeeperin), Dan Chamandy (Jacks Vater), Pawel Lawreszuk (Aguirre), Antje Tiné (Almas Mutter), AyanoMatsui (Saleswoman), Shawn Mlynek (Cowboy), Vepkhia Tsiklauri (Bill Jones), Opernchor des Stadttheater Gießen, Philharmonisches Orchester Gießen

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