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Opern-Kritik: Theater Aachen – Ernani

Wo der Kaiser höchstselbst sein Publikum erwartet

(Aachen, 7.6.2025) Das Regie-Team vom Musiktheaterkollektiv Agora setzt in Verdis „Ernani“ auf die Beteiligung der Zuschauer und fordert zugleich deren Illusionskraft.

vonMichael Kaminski,

Oper am Originalschauplatz. Jedenfalls beinahe. Für den dritten Akt von Verdis Frühwerk „Ernani“, der sich in der Gruft Karls des Großen zuträgt, pilgert das Publikum durch den Starkregen vom Theater in den etwa 500 Meter entfernt liegenden Aachener Dom. Dort versammelt es sich um ein Mini-Rundpodest im Zentrum des von Stühlen leergeräumten Oktogons. Nach etlicher Zeit des Wartens zeigt sich Karl V. im Hochmünster nahe dem Thron jenes Großen, dem er Namen und Zahl dahinter verdankt, um alsbald im Erdgeschoss zu erscheinen, das Podest zu besteigen und sich selbst zum Kaiser zu krönen. Chor und Orchester werden zugespielt, doch über weite Strecken singt der Herrscher, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, von der Domorgel begleitet. Kaum hat sich das erledigt, wartet draußen die karnevalistische Stadtgarde „Oecher Penn“ von 1857 e. V., um die Premierenbesuchenden durch den noch immer strömenden Regen unter Marschmusik-Klängen zurück ins Theater Aachen zu geleiten, wo der Schlussakt von Verdis Oper über die Bühne geht.

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Szenenbild aus „Ernani“ am Theater Aachen
Szenenbild aus „Ernani“ am Theater Aachen

Publikumsexkursion mit zweifelhaftem Mehrwert

Gewiss, dem Inneren des Aachener Doms wohnt abendlich und nachts unvergleichliche Mystik inne, und der Öcher Karneval garantiert Amüsement in Potenz. Dennoch bleibt der theatrale Mehrwert dieser Exkursion begrenzt. Schon weil es mit dem Originalschauplatz so eine Sache ist. Wohl koinzidiert die Datierung der Opernhandlung ins Jahr 1519 einigermaßen mit Karls V. Aachener Krönung im Folgejahr. Die in Verdis Oper vorgesehene Gruft Karls des Großen in der Domkrypta aber hat es nie gegeben. Die Vorstellung entspringt romantischer Imagination. Ihre Welt ist die Bühne, nicht das real existierende UNESCO-Weltkulturerbe. Einwände muss ferner die One Man Show in des Domes Mitte dulden. Das mit Regie, Bühne und Kostüme betraute „Musiktheaterkollektiv Agora“ aus Anna Brunnlechner, Benjamin David und Valentin Köhler gibt so gleichermaßen die Konfrontation Karls mit den Verschwörern und jenes neue durch die Kaiserwürde geweckte Bewusstsein von Milde und Mäßigung preis, das ihn Ernani vergeben und auf Elvira verzichten heißt. Übrig bleibt der bloße Machtmensch.

Szenenbild aus „Ernani“ am Theater Aachen
Szenenbild aus „Ernani“ am Theater Aachen

Einbindung der Stadtgesellschaft durch Publikumsbeteiligung

Aller Vorbehalte unerachtet, befindet sich „Agora“ auf gangbarem Weg. Die Einbindung der Stadtgesellschaft durch Publikumsbeteiligung und starken Bezug auf lokale Alleinstellungsmerkmale nimmt grundsätzlich für sich ein. Obschon teils pudelnass, lassen sich einige Besuchende nach ihrer Rückkehr ins Theater als Hochzeitsgäste des Titelhelden und Elviras auf die Bühne bitten. Da kommt ahnungsweise das Flair der „Meistersinger“-Festwiese auf. Bis Ernani sich inmitten der Festgesellschaft entleibt. Was sich chronologisch vor den Geschehnissen im Kaiserdom und auf der Hochzeit zuträgt, firmiert unter Zeitreise von der Illusionsbühne des 19. Jahrhunderts bis ins Heute. Die Tour startet in einer schauerromantischen Räuberhöhle, die damals fraglos für einigen Grusel gesorgt hätte, heute indessen belustigt.

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Szenenbild aus „Ernani“ am Theater Aachen
Szenenbild aus „Ernani“ am Theater Aachen

Von der modernen Luxusvilla ins venezianische Theater

Drollig kommt daher die Initiation Ernanis in die Bande der Gesetzlosen daher. Vom Räubernest führt der Weg ins venezianische Teatro La Fenice, das Haus, in dem das Werk 1844 aus der Taufe gehoben wurde, samt seinem zeitgenössischen Publikum. Es späht mit seinen Operngläsern nach dem Skandal in der Mittelloge, wo Elvira um den Geliebten Ernani bangt, während der Rebell auf seine beiden Rivalen trifft. Wie in der Loge mit Blankwaffen und einer antiquierten Handfeuerwaffe herumgefuchtelt wird, entspringt Slapstick-Klamotten. Erheiternd. Der alte weiße Grande Silva haust, wohl um seine junge und von ihm begehrte Nichte Elvira zu beeindrucken, in einer vornehm zurückhaltenden Luxusvilla gegenwärtigen Geschmacks.

Szenenbild aus „Ernani“ am Theater Aachen
Szenenbild aus „Ernani“ am Theater Aachen

Fest der tiefen Stimmen

Musikalisch erfüllen die Aachener zahlreiche Wünsche. Sicher werden Chor und Extrachor des Hauses unter Jori Klomp an vokaler Fokussierung und Durchschlagskraft noch zulegen. Mit dem Sinfonieorchester Aachen lässt Christopher Ward aufscheinen, wie konsequent sich in Verdis früher Partitur ein musikalisches Idiom anbahnt, das in „Rigoletto“ und „La traviata“ seine Erfüllung finden wird. Tenoral achtbar und spielerisch intensiv verkörpert Michael Ha den Titelhelden. Vokal schlank und wendig nimmt Larisa Akbaris Elvira für sich ein. Für Don Carlos (Karl V.) bietet Hrólfur Sæmundsson seinen nicht allein machtvollen, vielmehr auch zu chevaleresken Zwischentönen fähigen Prachtbariton auf. Seinen abgründigen Bass leiht Vladislav Solodyagin dem brünstigen und racheversessenen Silva.           

Theater Aachen
Verdi: Ernani

Christopher Ward (Leitung), Musiktheaterkollektiv Agora: Anna Brunnlechner, Benjamin David, Valentin Köhler (Regie, Bühne &  Kostüme), Eduard Joebges (Licht), Luca Fois (Video), Christopher Ward, Achim Hausherr (Ton, Sounds), Jori Klomp (Chor), Michael Ha, Hrólfur Sæmundsson, Vladislav Solodyagin, Larisa Akbari, Jelena Rakić, Pawel Lawreszuk, Wonhong Kim, Areum Jo (Orgel), Sinfonieorchester Aachen, Opernchor und Extrachor Aachen, Stadtgarde „Oecher Penn“ von 1857 e. V.






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